AW Designer des Jahres
AW Designer des Jahres

AW Designer des Jahres 2011: Tokujin Yoshioka

Er entwirft Möbel – unsichtbar wie Luft, Sessel wie Bienenwaben, Installationen wie ein Wolkengebilde: Die Arbeiten des Japaners sind inspiriert von Naturphänomenen. Tokujin Yoshioka ist der "AW Designer des Jahres 2011".
Datum20.01.2020

The Material Boy nannten wir den Ross Lovegrove, dem AW-Designer des Jahres 2001. als Nachwuchstalent auserkorenen jungen Japanger – weil er mit neuen Materialien experimentierte und in Anspielung auf Madonnas Hit. Der 1967 in Saga geborene Tokujin Yoshioka (der Familienname steht vor dem Rufnamen) war damals in Deutschland – und weitgehend in Europa – unbekannt.

Der Absolvent des renommierten Kuwasawa Design Institutes arbeitete nach dem Studium ein Jahr beim legendären Shiro Kuramata (1934–1991), bevor der ihn 1988 dem nicht minder berühmten Modemacher Issey Miyake empfahl. In dessen Atelier blieb Yoshioka vier Jahre lang und gestaltete nicht nur Modeaccessoires, sondern versuchte sich bereits an raffinierten Schaufenster-Dekorationen und aufsehenerregender Ausstellungsarchitektur. Dabei entwickelte er früh die Kunst der Inszenierung, die er wie kaum ein zweiter Gestalter beherrscht; und für die er tief eintaucht in die Welt neuer Materialien und moderner Technologie, handwerklicher Techniken und naturbedingter Phänomene, die seine Phantasie beflügeln – und seine sehr besonderen Designideen erst ermöglichen.

Den Interpreten der Natur nennen wir Tokujin-san anlässlich seiner Wahl zum AW Designer des Jahres 2011, zehn Jahre nachdem er den Mentorpreis erhielt. In seinen Entwürfen, ob Möbel oder Ausstellung, verquickt er Natur mit Kunst und Kultur und lotet die Wirkung seiner Kreationen auf die Sinne aus. „Design ist doch nicht nur die Gestaltung von Gegenständen", erklärt er, „es geht mir vor allem um das Gefühl beim Benutzen und Betrachten der Dinge." 2001 stellt er einen Sessel aus Papier vor, der dem Honigwabenprinzip der Bienen nachempfunden ist und wie eine Kinderlaterne entfaltet wird. Sich auf den „Honey-Pop Chair“ zu setzen heißt, ein archaisches Vorurteil zu überwinden. Yoshioka freut sich über das zögerliche Herantasten und die freudige Überraschung des Platznehmenden, wenn er realisiert, dass die Papierstruktur trägt.

Das ist seine Design-Philosophie: Die Natur als Inspirationsquelle benutzen, austüfteln, wie viel Faltung die Wabenstruktur aus Papier benötigt, um das Ge- wicht eines ausgewachsenen Menschen auszuhalten. Tokujin Yoshioka versteht sich weniger als Produktdesigner von Gebrauchsgegenständen denn als For- scher, als Ingenieur, als Vermittler von Gestaltung. In den vergangenen Jahren ist er zu einem Star der internationalen Designszene avanciert, entwirft Möbel für Avantgarde-Hersteller wie Cassina, Driade, Kartell, Moroso und Vitra. 

Er wird von Toyota und BMW engagiert, um deren Ausstellungsarchitektur auf den großen Automessen zu inszenieren. Für Hermès gestaltet er Schaufenster, für Cartier einen Parfümflakon, Leuchten für die Crystal Palace Collection von Swarovski – und für deren Wiener Flagshipstore entwarf er „Shimmering Lake“, eine Wand aus Tausenden Metallplättchen, die sich computergesteuert bewegen und wie eine Wasseroberfläche Licht, Wind und Wellen spiegeln.

Seine Ausstellungen während der Möbelmesse „I Saloni“ in Mailand sind seit Jahren die spektakulärsten: die Wandlandschaften aus Zigmillionen unterschiedlich langen Plastik-Strohalmen, die er zusammen mit einer Handvoll Studenten 2007 im Showroom von Moroso arrangierte – und die den eigentlichen Schaustücken, den Möbeln, die Show stahl; seine „Eiskristalle“, die er 2009 für eine Ausstellung von Swarovski in einem Aquarium künstlich züchtete; die riesigen „Schneeflocken“, die eher wie gläserne Strohsterne als weithin sicht- bares Gebilde 2010 im Schaufenster von Kartell hingen, wo sie die „Invisibles“ versteckten, seine Möbel aus kompaktem, durchsichtigem Polycarbonat, das nie zu- vor so verarbeitet wurde – Kunstobjekte.

Etwas Überraschendes gestalten, das Sitzen „wie auf der Luft“; einen „Regen- bogen“ in einem Stuhl und einen „Wasserfall“ in einer Bank aus Prismaglas einfangen; einen „Tornado“ zitieren wie 2007 in der Inszenierung des Chaos mit zwei Millionen Plastikröhrchen auf der „Design Miami“-Kunstmesse oder „Schneefall“ imitieren mit 400 Kilo rhythmisch auf- gewirbelten Gänsefedern hinter einer transluzenten Wand im Mori Museum in Tokio – das sind die Ideen, die Tokujin Yoshioka antreiben.

Im Interview lässt sich der Meister von seinen Assistentinnen interpretieren. Er spricht kein Englisch, aus Prinzip nicht: „Warum sollte ich das lernen? Ich warte, bis es den Chip ins Gehirn gibt, mit dem man alle wichtigen Sprachen auf einmal beherrscht.“

Yoshioka Tokujin, wie er nach europäischer Regel heißen würde, grüßt freundlich – tiefer japanischer Diener–, macht es sich im Ledersofa der Lobby des Hotels Splendido in der Mailänder City bequem. So lauscht er seinen Assistentinnen Miko und Akiko, die alle unsere Fragen nahezu simultan übersetzen.

Tokujin-san, Sie entwerfen Bänke wie Wasserfälle, schaffen Wolkengebilde als Rauminstallationen, Sessel wie ein Blütenmeer. Inwiefern inspiriert Sie die Natur? Ich bin in Japan auf dem Land aufgewachsen, in einem kleinen Ort namens Saga. Dort lebte ich in und mit der Natur. Ich war immer besonders angetan von den natürlichen Schönheiten um mich herum. Das beinhaltet auch das vermeintliche Chaos und Durcheinander in der Natur. Aber vor allem die Schönheit, die der Zufall hervorbringt. 

Der Zufall? Die Evolution probiert, testet, riskiert – und bringt auf diese Weise immer wieder neue Attraktionen zustande. Es hat stets auch etwas Zufälliges. Ja, es ist die Schönheit des Zufalls.

Und Sie wollen mit Ihren Arbeiten der Natur nacheifern? In gewissem Sinn schon. Es hat mich immer neugierig gemacht, warum die Menschen so bewegt sind, wenn sie Naturschönheiten betrachten. Ich versuche der Natur nachzueifern, was das Prinzip des Zufalls angeht. Ich will die Natur nicht imitieren. Ich versuche nur, ein ihr ähnliches Konzept anzuwenden bei meiner Gestaltung. 

Heißt das, Sie wissen zu Beginn eines Gestaltungsprozesses gar nicht, was Sie gestalten werden? So kann man es wohl sagen. Die Anzahl und Verschiedenheit der Kreationen, die Menschen sich vorstellen können, ist äußerst gering im Vergleich zu dem, was tatsächlich möglich ist. Sie sind beschränkt durch ihren Geist. Wenn ich anfange zu experimentieren, dann gibt es Zufälle und überraschende Ergebnisse, die ich mir nicht hätte vorstellen können. Also hätte ich auch nicht darauf hinarbeiten können. 

Das bedeutet, Sie überraschen sich selbst? So ist es. Ich will immer überrascht sein von meinen Arbeiten. Und ich will immer überraschend sein mit meinen Arbeiten. Ich will immer mehr schaffen, als ich mir vorstellen kann. 

Wenn die Schönheit Ihrer Objekte durch Zufall entsteht, ist die wahre Schönheit dann überhaupt reproduzierbar? Ich denke schon. Zuerst entsteht die Schönheit durch einen Zufall, während ich experimentiere. Aber dann weiß ich, wie es funktioniert. Und dann kann ich es reproduzieren. Ich starte wie ein blutiger Anfänger mit meinen Forschungen. Am Ende bin ich ein Profi. 

Sind Ihnen Gefühle für Ihr Design wich- tiger als neue Formen oder Funktionen? Ja, es geht mir bei einem experimentellen Stuhl wie dem „Invisible“ für Kartell nicht um Komfort und Bequemlichkeit. Er soll Freude machen, Verwunderung, Verblüffung auslösen. Das ist mir das Wichtigste: Dass die Menschen etwas empfinden, wenn sie meine Objekte betrachten oder benutzen.

Wenn Sie kommerzielle Produkte für Ihre Kunden entwerfen, können Sie aber nicht so arbeiten, oder? Ich kann dann nicht einfach so herumexperimentieren. Aber ich sehe immer zu, dass ich etwas Neues schaffe, das der Charakteristik des Unternehmens entspricht. Für Kartell etwa den Stuhl mit geflochtener Plastik-Sitzfläche. Und für Moroso habe ich eine Installation, in der ich ein Wolkengebilde aus 30000 Papiertaschentüchern erschaffen habe, auf einen Stuhl übertragen. Das sind immer auch Ergebnisse von Experimenten. Doch auch die können zufällig entstehen. Es darf nur nichts sein, was es schon gibt.

Da Sie gerade die Serie „Invisible“ erwähnt haben: Viele Ihrer Möbel und Objekte sind weiß oder transparent, als wollten Sie sich unsichtbar machen, aus der realen Welt verschwinden. Interpretieren wir das richtig? Das Objekt an sich ist für mich nicht so interessant. Es geht um die Idee, die Erfahrung beim Experiment, um Emotionen und Empfindungen. Das Transparente lotet die Grenze zwischen physischem Objekt und dem Immateriellen aus. 

Wollen Sie den Betrachter verwirren? Im Gegenteil. Ich denke, dass die pure und reine Ästhetik viel eher die Idee des Objekts preisgibt. Damit kann ich besser ausdrücken, was ich erschaffen wollte. Ein weißes und ein transparentes Objekt ist symbolisch – einfach und stark. Und es gibt noch einen Grund: Weiß und Transparenz symbolisieren das Licht. 

Sie selbst tragen hingegen fast ausschließlich Schwarz. Ist das auch symbolisch? Meine Objekte symbolisieren das Licht, ich den Schatten. In Japan sagt man: Weil es Schatten gibt, gibt es Licht.

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