Wildnis mit Vergangenheit Die schönsten Parks in Estland
Schwarz-bunt, mit glänzendem Maul steht wie angewurzelt eine Kuh im bauchhohen Gras an der Straße Richtung Palmse. Kein Zaun, kein Haus, kein Mensch ist weit und breit zu sehen. Dafür ragt zehn Meter hinter dem Tier die Ruine von Lechts empor. Ein ausgeblichenes Turmskelett, in dessen leeren Fensterlaibungen, in gut fünfzehn Meter Höhe, rosa Storchschnabel wohnt. Wer alte Gutsanlagen sucht, so steht es in einem Estland-Reiseführer, der achte auf Türme, Schornsteine und alleeartig gepflanzte Bäume. Sie sind Wegweiser zur europäischen Geschichte, die in den verwilderten Parks unter wuchernden Pflanzenschichten verborgen liegt.
Estland, groß wie Niedersachsen, ist das nördlichste der drei baltischen Länder. Ein Drittel besteht aus Wald, ein knappes Viertel aus Sümpfen und Mooren. Nur 1,4 Millionen Esten leben in dem Staat, der neben der Slowakei der modernste der zehn Staaten ist, die im Mai der europäischen Gemeinschaft beitreten. Ein Land, das sich hell und frisch wie Dänemark oder Holland präsentiert. Von den rund siebenhundert Jahren gemeinsamer Geschichte mit Deutschland ist auf den ersten Blick nichts sichtbar.
Helle Wasser, dunkle Gehölze – was wie wilde Natur aussieht, ist sorgfältig komponiert. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der an Gehölzarten reichste Park Estlands von Georg Kuphaldt gestaltet. Der berühmte Baumkundler wurde 1914 in Russland als Spion verhaftet und nach Deutschland ausgewiesen.
Zurück blieben die Gutshäuser. Aus manchen wurden Milchwirtschaftsschulen oder Kolchosebüros, in andere zogen Waisenkinder ein oder sowjetische Soldaten. Der größte Teil der Häuser stand jedoch leer. Dächer fielen ein, Fenster zerbrachen, in Mauerritzen und Spalten siedelten Farne oder Schöllkraut. Birkensaat wehte heran, Brennnesseln nisteten sich ein. Aus den Zeugnissen ehemaliger Herrlichkeit wurden Ruinen – Staffage in einer oft malerischen Wildnis.
In jener Zeit aber, als das meiste Land nur dreihundert Adelsfamilien gehörte, in der „das Gesinde noch der Herrschaft die Ärmel küsste“ und „muskelstarke Gärtnerburschen“ das Wasser aus dem Brunnen im Hof zur Küche pumpten, wie die estländische Schriftstellerin Else Hueck- Dehio in ihrem viel gelesenen Bändchen „Ja, damals …“ erzählt, da sah das Land anders aus.
Damals verbanden Alleen aus sibirischen Lärchen, aus Linden und Schwarzerlen die Güter mit einem das Land überspannenden Wegenetz. Auf Schloss Finkel wurde eines der Gewächshäuser immer in „tropischer Hitze“ gehalten, damit die Majoratsfamilie von Uexküll zum Tee, abends um halb zehn, frische Aprikosen und Weintrauben naschen konnte. Im Park Luke stutzte Jahr für Jahr eine Truppe von Gärtnern die kopfhohen Lindenhecken des altmodischen, noch aus dem Barock stammenden Labyrinths. Und in Keila-Joa leuchtete das neogotische Gemäuer in frischem Rostrot, eine Farbe, die Königin Luise am Berliner Hof in Mode gebracht hatte und die Alexander von Benckendorff, Chef der politischen Geheimpolizei unter Zar Nikolaus, kopierte, als er sich sein Sommerhaus bauen ließ. Keila-Joa wurde einer der prächtigsten Landsitze Estlands, mit einem Park, der bis an die Ostsee reichte und in dem Wasserfälle sechs Meter tief herabstürzten. Auf den berühmten hellen Wiesen standen so genannte „Clumps“ aus dekorativen Eichen oder Buchen, und in den Tortenbeeten dicht am Haus drängelten sich braunorange Tagetes, scharlachrote Dahlien, rotschwänziger Amarant und riesenwüchsiger Rizinus.