Reise
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Old School, new Styles: Citytrip durch Londons Kreativviertel

Tradition trifft auf progressive Frische: Eine Tour durch Londons neue Kreativviertel mit Andreas Mindt – Designchef von Bentley
Datum26.07.2022
In der Battersea Power Station wurde bis 1983 viel Kohle am Südufer der Themse verbrannt. Heute schmückt der legendäre Ziegelbau das boomende Viertel Nine Elms.

Andreas Mindt hat sich auf der Circus Road West genau zwischen zwei helle, himmelstürmende Türme platziert. Die Schlote der Battersea Power Station sind legendäre Ikonen der Londoner Industriegeschichte und überragen heute weithin sichtbar das neu geschaffene Viertel Nine Elms im Süden der Metropole. Der Designchef von Bentley, der im auberginefarbenen Continental GT Speed vorfährt, hat das ehemalige Kraftwerk als Ausgangspunkt für seinen City-Trip gewählt. Es ist ein Ort, der für die große Historie Londons und zugleich für Aufbruch und Dynamik steht.

Erbaut wurde die Battersea Power Station 1929 vom Architekten Sir George Gilbert Scott, der einige Wahrzeichen Londons geschaffen hat – neben dem Gebäude des heutigen Museums Tate Modern auch die unverwechselbaren roten Telefonhäuser. Als das Battersea-Werk in den Achtzigerjahren abgeschaltet wurde, gehörte es längst zur englischen Popkultur: Die Band Pink Floyd hatte 1976 ein aufgeblasenes rosa Schwein zwischen den Schloten aufsteigen lassen und auf dem berühmten Cover ihres Albums „Animals“ verewigt. Lange her. 

Battersea Power Station: Ein neues Luxusviertel entsteht

Aus dem Brachland rund um die Industrieruine ist nach den Entwürfen namhafter Architekten ein neues teures Viertel entstanden. Rafael Viñoly konzipierte den Masterplan. Frank O. Gehry und Norman Foster entwarfen Wohntürme. Das Büro WilkinsonEyre übernahm die Sanierung des zur Themse offen liegenden Kraftwerks. Für eine Penthouse-Wohnung werden hier Verkaufspreise um zehn Millionen Pfund aufgerufen. Eine Indoor-Shopping-Mall ist geplant. Apple bezieht sechs Stockwerke als Hauptquartier.

An warmen Tagen sitzen Studierende der Design­Hoch­schule Central Saint Martins auf den begrünten Stufen, die zum Regent’s Canal führen.

Das Royal College of Art erfindet sich neu

Wish you were here? „Ikonische Architektur. Beste Lage an der Themse. Große weite Flächen“, schwärmt Andreas Mindt. Der gebürtige Rheinländer, der seit März als Chefdesigner am Bentley-Hauptsitz im nordenglischen Crewe tätig ist, kann sich durchaus vorstellen, in Nine Elms zu wohnen. Es gibt hier große Grünflächen, Cafés, Kinos und eine gute Anbindung ans U-Bahn-Netz. Dennoch kommt einem beim Rundgang der Gedanke: Reicht das alles, um Leben in das neue Viertel zu bringen? Es fehlt noch der kreative Buzz, der im Quartier nahe der Battersea Bridge entstand, als dort vor 25 Jahren das Royal College of Art seine Wurzeln schlug. Das traditionsreiche College für Kunst und Design, 1837 gegründet, eröffnete kürzlich einen neuen, 16.000 Quadratmeter großen Komplex, in dem eine neue Generation von digitalen Gestaltern und Unternehmern geschult werden soll. Der ambitionierte, von markanten Backsteinfassaden geprägte Campus wurde vom Architekturbüro Herzog & de Meuron entworfen. „Datenwissenschaft? Robotertechnik? Mehr Silicon Valley als farbverspritzte Künstlerateliers“, monierte ein Kommentator in der ehrwürdigen „Times“ über das interdisziplinäre Konzept. Architekt Jacques Herzog konterte: „Das Royal College of Art ist ein Dorf zum Thema Kunst, mit einer Atmosphäre, die zum Lehren und Lernen anregt.“ 

„Wunderbar“, kommentiert Andreas Mindt die öffentliche Debatte und setzt sich wieder ans Steuer. Es geht Richtung Nordosten, wo auch im einst öden Viertel rund um den stark frequentierten Bahnhof King’s Cross neues Leben entstand, als die Talentschmiede Central Saint Martins dort einen ehemaligen Getreidespeicher bezog. An Luxuslimousinen fehlt es während unserer Fahrt nicht, aber der Bentley sticht heraus. „Es ist der lila Farbstich“, sagt Mindt lächelnd.

Aufstrebend & hipp – das Viertel rund um den Regent's Canal

Wir steigen aus zu einem kleinen Spaziergang durchs umgestaltete King’s Cross. In ehemalige Lokschuppen, Bahnviadukte und Güterhallen sind Büros, Läden und Restaurants eingezogen. Es grünt und blüht überall. „Das ist der Hammer“, begeistert sich Andreas Mindt, während er durch das überdachte Atrium von Saint Martins schreitet. In einem Winkel spielen Studenten Tischtennis, in einem anderen filmen Modeabsolventen. Mindt: „Genau das ist es, was wir in Crewe gerade machen, nämlich das Erbe zu bewahren und gleichzeitig mit Innovation in Einklang zu bringen.“

Derzeit arbeitet er mit einem Team von 48 Experten an der elektrischen Zukunft der Marke. „Die Proportionen werden anders sein. Geräumiger – da es vorne keinen Motor mehr gibt“, erklärt er. „Aber es wird ein erkennbarer Bentley sein. Wir werden den Charakter sogar noch schärfen.“ Der Bentley soll dann eine größere Reichweite haben. Derzeit würden starke Lader für die Autobahn entwickelt. „In vier Jahren ist es dann so weit.“

Wie eine Raupe zieht sich die Skulptur des spanischen Architekturbüros SelgasCano durch Greenwich Peninsula – sie gehört zur Kantine des neu entstandenen Design Districts

Greenwich Design Quarter: Bei der Kreativszene hoch im Kurs

Gute Dinge brauchen ihre Zeit. Lange wurde der betongraue Barbican Estate – ein in den Sechzigerjahren vom Büro Chamberlin, Powell und Bon im Stil des Brutalismus entworfener Komplex aus Wohntürmen, flachen Blocks und einem Kulturzentrum – mitunter als „lebensfeindlich“ kritisiert. Doch im zurückliegenden Jahrzehnt hat sich eine junge Kreativszene die Gebäude mit ihrer groben geometrischen Formsprache neu angeeignet und die besondere Ästhetik goutiert. Ähnliches passiert nun auch im Greenwich Design Quarter auf der von der Themse umspülten Landzunge Greenwich Peninsula. Hier haben acht Architekten 16 Gebäude für Designunternehmen entworfen, die in unterschiedlichen Winkeln zueinander stehen und so verschiedene Blickachsen bilden. Neue Perspektiven für die dynamische Metropole.

Mount Street Printers: Eine Ode an feines Briefpapier

Wir fahren Richtung Mayfair – vorbei an Backsteinbauten, alten Pubs und malerischen Gärten. Die dörfliche Atmosphäre verbindet sich mit einem Hauch Empire-Romantik. Mindt: „Ich finde es wunderschön hier. Man fühlt sich wie in einem Film.“ Unser Ziel ist Mount Street Printers, eine Papeterie in der Nähe vom Bentley Showroom am Berkeley Square. „Wir entwerfen und drucken, von Visitenkarten bis zu Büchern“, erklärt Eigentümerin Fridette Cain. „Unser Markenzeichen ist zeitlos elegantes Design, das altes Handwerk mit neuester Technologie verknüpft.“ 

Wie eine Lovestory klingt es, wenn Mrs. Cain beschreibt, wie wunderbar sich feines Briefpapier anfühlt. Mit gleichem Enthusiasmus spürt Ehemann Peter Druckmaschinen in aller Welt auf und lässt sie nach London transportieren. Kein Wunder, dass sich der Chefdesigner vom Hoflieferanten Bentley mit den Cains bestens versteht.

Old School mit Stil: Das Bellamy’s in Mayfair bietet exzellente französische Brasserie­Küche und eine elegante Bar (Besitzer Gavin Rankin, l.).

Empire-Romantik, Pubs und noble Autos

Wie können wir diesen London-Tag entspannt ausklingen lassen? Gleich ums Eck betreten wir die französische Brasserie Bellamy’s. Hier entscheidet sich Andreas Mindt für ein kühles Bier und findet in Besitzer Gavin Rankin einen weiteren Automobil-Enthusiasten. Jetzt geht es um Motoren und Geschwindigkeit. „Die Briten sind begeisterte Amateure“, sagt Gavin Rankin. „Die besten Ideen entstehen oft in Gartenschuppen.“ Andreas Mindt erinnert an die Bentley Boys – reiche Enthusiasten, die den Ruf der Marke als Rennwagen prägten, unter ihnen Diamantenhändler, Schatzhändler und Piloten. Lange ist es her, seit indische Prinzen sich in Mayfair in ihren Bentleys Rennen lieferten. Als an diesem Abend vor der Tür ein aufheulender Motor zu hören ist, kommentiert das Andreas Mindt mit einem entspannten Lächeln: „Das überlassen wir gerne anderen. Wir sind kraftvoll, aber nicht laut“.