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Wer wohnt denn da? Homestory & Interview mit Jørgen Rasmussen

In diesem Zuhause stimmt die Balance aus Inszenierung und dekorativer Reduktion. Dass Jørgen Rasmussen ein ausgeprägtes Gespür für zeitlose Formen und Proportionen besitzt, beweist ein Blick in sein Kopenhagener Haus. Unsere Kolumnistin analysiert das Anwesen in unserer aktuellen Homestory und trifft den dänischen Architekten und Möbeldesigner zum Interview.
Text Ute Laatz
Datum07.10.2022

Mein erster Eindruck? Das passiert nicht aus Zufall

Mein erster Eindruck? Hier legt jemand Wert auf Ästhetik, Ordnung und klare Strukturen. Allein die Anordnung der Pinsel auf der Ablage neben dem Schreibtisch hat fast etwas Pedantisches an sich. Das wirkt geradezu preußisch auf mich. Und dann dieser hallenartige Arbeitsraum. Wie ein Bildhaueratelier. Dazu passt diese Allegorie an der Wand. Ich bin für eine andere Recherche mal auf den dänischen Bildhauer Bertel Thorvaldsen gestoßen. Und das Wandrelief hier erinnert mich an seine Darstellungen der vier Jahreszeiten, genauer gesagt den Frühling.

Auf Skandinavien deuten auch die hellen Holzdielen sowie der Kachelofen. Vielleicht bringt mich das Vorratsregal hinter dem Schaukelstuhl (auch sehr skandinavisch) weiter. Auf den ersten Blick sehe ich nostalgische Blechdosen von Cream Crackers aus England. Das sind aber inzwischen internationale Sammlerstücke und kein unbedingter Verweis, wo und vor allem bei wem wir uns hier befinden. Auffällig ist auch hier die akkurate Inszenierung. Jedes Regalfach hat seine Bestimmung. Alle Kannen – davon gibt es wirklich eine ganze Menge, man trinkt wohl gern Tee und Kaffee – Vorratsgläser, Konserven und Schalen bekommen ihren festen Platz zugesprochen. Dieses System sorgt für die beruhigende klare Optik. Kein Fach ist leer, keins überfüllt. Das passiert nicht aus Zufall.

Inszenierungen mit Expertise

Alles ist auf eine fast mathematische Weise strukturiert. Ich meine, hier könnte ein Wissenschaftler leben. Aber einer mit Sinn für Formen, Farben und Proportionen. Gut, das sind meist keine Kategorien für Physiker oder Chemiker. Eher ein Ingenieur? Oder vielleicht ein Architekt? Jedenfalls jemand mit Sinn und Verstand für Design. Schließlich versammeln sich um den runden Tulip Table vom Finnen Eero Saarinen für Knoll International sechs der berühmten Bugholzstühle 209 M. Kein geringerer als Le Corbusier attestierte letzteren seinerzeit eine adelige Anmut und setzte den Klassiker von Thonet in vielen seiner eigenen Architekturentwürfe ein.

Der Mix dieser Designklassiker – die Stühle von 1900, der Tisch aus den späten Fünfzigern – ist durchaus allein wegen des Epochen-Unterschieds gewagt und lässt auf einen Profi in Sachen Stil schließen. Jemand, der zwar Wert auf das Arrangement legt, aber dabei souverän mit dieser provisorischen Hängung der Leuchte leben kann. Das Kabel schwingt sich einfach im Bogen zum Wandregal, um dort aus dem Sichtfeld zu verschwinden.

Kalkulierte Wohnlichkeit

Ach ja, das Bücherregal. Birgt eine Menge Lesestoff. Aber eben nur einen Bruchteil dieses Haushalts. Im Arbeitszimmer und auf den Beistelltischen am Kamin stapelt sich die Lektüre ebenfalls. Das ist jedenfalls keine bloße Staffage für repräsentative Zwecke, sondern eine Leidenschaft des oder der Hausherren. Dieses Haus strahlt eine Behaglichkeit und Gastlichkeit aus, dass man sich hier verschworene Runden uralter Freunde vorstellen kann, die sich ihre gemeinsamen Abenteuer in Erinnerung rufen. Womöglich bei einer guten Tasse Tee oder Kaffee? Das spräche endgültig für Skandinavien, auf das ich mich angesichts so vieler Indizien festlege. Aber was treibt man hier als Bewohner, wenn gerade keine Gäste zu bewirten sind?

Wer wohnt denn da? Im Büro gibt es noch einiges zu entdecken

Wofür all die Pinsel, frage ich mich, um ins Arbeitszimmer zurückzukehren. Die sind ja nicht zum Malen. Eher Möbelpinsel zum Abstauben. Oder einfach eine hübsche Kollektion? Im Büro gibt es überhaupt noch einiges zu entdecken. Wie die Sammlung von Miniaturen etablierter Designklassiker. Und ich meine neben dem Freischwinger von Thonet auch einen Bürodrehstuhl zu erkennen. Der wiederum erinnert mich an den ikonischen Entwurf des dänischen Architekten und Möbeldesigners Jørgen Rasmussen für Kevi aus den 1970er-Jahren. Rasmussen erfand damals auch ganz nebenbei das Doppelrollenrad, ohne das sich bis heute kein Bürostuhl widerstandslos in alle Richtungen bewegen würde. Und eigentlich könnte ich mir den inzwischen hochbetagten, aber dennoch rüstigen Herrn hier richtig gut vorstellen. Wie er es sich in seinem Schaukelstuhl gemütlich macht und den Moment genießt. Ich hatte das Vergnügen, ihn bei den letztjährigen „3 Days of Design“ im Rahmen einer Vernissage seines Werks kennenzulernen. Er lebt, soviel ich weiß, am Stadtrand von Kopenhagen. Das würde doch sogar passen.

Design ist für mich nichts anderes als eine lebendige Kunstform

Interview mit Jørgen Rasmussen: Ein klarer Jungbrunnen

Der Architekt und Designer Jørgen Rasmussen lebt vor den Toren Kopenhagens. In seinem Haus, einer denkmalgeschützten Sommervilla aus dem frühen 19. Jahrhundert, drückt sich das Stilverständnis des hellwachen 91-jährigen Dänen aus – als Brutstätte für seine Ideen von gutem Design.

Auch Pinsel können Sammelobjekte darstellen, wie man hier sieht. Und die akkurate Anordnung lässt auf einen Besitzer mit viel Ordnungssinn schließen

Lieber Jørgen Rasmussen. Das sind also wirklich Sie, der hier wohnt. Was ist denn das für ein Gebäude?

Jørgen Rasmussen: Mein Haus heißt auf Dänisch „Spurveskjul“ und steht unter Denkmalschutz. Es stammt aus dem Jahr 1805, als es für die Oberschicht in Kopenhagen sehr beliebt war, eine Sommerresidenz zu haben. Nicolai Abildgaard, der Direktor der Kopenhagener Akademie, ließ dieses heute ikonische Haus 1805 nach seinen eigenen Zeichnungen und Ideen errichten. Er selbst war Maler und Architekt. Das zweigeschossige Hauptgebäude von 1805 steht auf einem älteren Fundament. Es ist ein schmaler, rechteckiger Bau mit Holzrahmen und weißem Anstrich. An den Ostgiebel des zweigeschossigen Hauptgebäudes schließt sich ein eingeschossiger Seitenflügel an. Er war ursprünglich ein frei stehendes Gebäude aus den 1730er-Jahren, wurde aber 1846 mit dem Hauptflügel verbunden. Es beherbergt heute eine Küche, ein Bad und ein Zimmer mit offenem Kamin.

Und woher stammt das Relief an der Wand in Ihrem Arbeitszimmer?

Jørgen Rasmussen: Das Relief in meinem Büro stammt aus dem Schloss Sorgenfri nördlich von Kopenhagen, das Mitgliedern der dänischen Königsfamilie über die Jahrhunderte als Residenz diente.

Im vergangenen Jahr haben Sie Ihren neunzigsten Geburtstag gefeiert. In Ihrem Alter hätten Sie sich längst mit gutem Gewissen von Arbeitsplätzen fernhalten und Ihren Ruhestand genießen können. Aber bei welchen Gelegenheiten zieht es Sie zurück an den Schreibtisch?

Jørgen Rasmussen: Ich habe mich nie wirklich zur Ruhe gesetzt und bin in Rente gegangen. Ich glaube nicht, dass man das in einem Handwerk, das man liebt und beherrscht, jemals tun wird.

Was hat es mit der Pinselsammlung auf sich?

Jørgen Rasmussen: Meine Pinselsammlung in meinem Büro ist ganz einfach auf meinen Drang zurückzuführen, schöne Werkzeuge zu sammeln, die mit Sorgfalt und unter Verwendung der besten Materialien hergestellt werden.

Ihre Einrichtung wirkt so jung und modern. Wann haben Sie zuletzt etwas umgestaltet, hinzugefügt oder ersetzt?

Jørgen Rasmussen: Das letzte Mal, dass ich meine Wohnung umdekoriert habe, war, als mein jüngster Sohn vor 12 Jahren ausgezogen ist. Das hatte also ganz praktische Gründe, Raum anders zu nutzen.

Was ist für Sie das Geheimnis eines guten Möbelstücks?

Jørgen Rasmussen: Ich denke, das Geheimnis eines gut gestalteten Möbels liegt darin, dass ein einfaches Design die funktionalen Anforderungen perfekt erfüllt. Und dass es einem gelingt, die Materialien optimal in ihrer Beschaffenheit zu nutzen. Design ist eine lebendige Kunstform.

Die Skandinavier sind bekannt für ihre funktionalen Möbel. Wie halten Sie es persönlich mit dem Einsatz dekorativer Elemente?

Jørgen Rasmussen: Skandinavische Designer konzentrieren sich oft darauf, ein einfaches und funktionales Design zu entwerfen – genau so, wie ich beschrieben habe, was für mich ein gutes Möbelstück ausmacht. Wenn man das mit Designern aus Südeuropa vergleicht, neigen diese dazu, weniger Wert auf Einfachheit und Funktionalität zu legen und sich stattdessen darauf zu konzentrieren, ein spektakuläres Design zu schaffen. Der Effekt ist ein völlig anderer.

Wie stolz sind Sie darauf, dass Ihr Bürostuhl „Kevi“ die Zeit und die Trends überlebt hat und heute zu den absoluten Stuhlklassikern gehört?

Jørgen Rasmussen: Der „Kevi“-Stuhl ist ein Produkt, das ständig weiterentwickelt wird und das nunmehr schon seit fünfzig Jahren in Produktion ist. Wenn ich etwas am Design ändern sollte, dann wären es allenfalls kleine Anpassungen, aber nichts, was den Stuhl grundlegend verändern würde.