Architektur
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Jeanne Gang ist AW Architektin des Jahres 2025

Aufgewachsen mit Baumhäusern und Naturerlebnissen, sieht Jeanne Gang Architektur als lebendigen Prozess, der Gemeinschaft schafft. Sie versteht sich selbst als „Pollinator“, der Ideen zwischen ihren internationalen Büros vermittelt – und ist damit AW Architektin des Jahres 2025.
Text Jeanette Kunsmann
Datum25.06.2025

Jeanne Gang kitzelt Wände, Böden und Decken. Die AW Architektin des Jahres 2025 fordert dazu auf, sich mit Räumen auseinanderzu­ setzen. Sie erschafft wunderbare Welten und lebendige Landschaften, die Gemeinschaft und Gesellschaft fördern. Die Gebäude der US-amerikanischen Architektin loten immer wieder die Grenzen dessen aus, was Architektur leisten kann. Wir treffen Jeanne Gang in Paris, wo gerade mit dem John W. Boyer Center das erste Projekt von Studio Gang in der französischen Metropole eingeweiht wurde.  

Ein ausführliches Interview mit Jeanne Gang über ihre Philosophie, ihre Arbeitsweise und über künstliche Intelligenz finden in der neuen Ausgabe von AW Architektur & Wohnen 4/25. Ab dem 4. Juli im Handel.

Jeanne Gang: AW Architektin des Jahres 2025 im Video

Auszeichnungen und Anerkennung: Jeanne Gang im Rampenlicht

Was haben wir eigentlich von unseren Eltern gelernt? Jemand wie Jeanne Gang beantwortet diese Frage mit einem beeindruckenden und vielfältigen Œuvre aus kleinen Gemeinschaftszentren und Wolkenkratzern, Museen, poeti- schen Theatern und wegweisenden Bildungsbauten für Universitäten. „Ich wurde als Architektin geboren“, behauptet die US-Amerikanerin, als sie beginnt, über ihr Leben vor ihrer Karriere zu sprechen, angefangen bei ihrer Kindheit. Sie sei immer viel draußen gewesen in der Natur und habe gerne zusammen mit FreundInnen Baumhäuser gebaut. Jeanne Gang wurde schon in jungen Jahren durch ihren Vater, der als Bauingenieur an Brücken arbeitete, mit der gebauten Umwelt vertraut gemacht. Ihre Mutter leitete ein Gemeindezentrum und arbeitete als Bibliothekarin. „In gewisser Weise ist Architektur also die Kombination von dem, was mein Vater und meine Mutter gemacht haben“, analysiert Gang. „Mir geht es darum, Orte zu schaffen und Gemein- schaft zu stiften.“ Ein Anspruch ans Bauen, den das 1997 gegründete Studio Gang (Chicago/New York/ San Francisco/Paris) bis heute in jedem Projekt verfolgt. Dessen Gebäude umarmen die Menschen. Sie dienen als Bühnen für Begegnungen, werden zum beliebten Treffpunkt, zur schützenden Nische, zum gemütlichen Sofa, zur Lernlandschaft. Blick über die Dächer von Paris: Die Schornsteine glänzen im Sonnenaufgang und erzählen von vergangenen Zeiten, während im Architekturbüro von Jeanne Gang an den Gebäuden für morgen ge- arbeitet wird. In Paris Rive Gauche findet sich seit Kurzem ein neues Exemplar: Das John W. Boyer Center für die University of Chicago wurde als zukunftsweisender Lernort im Herbst 2024 eröffnet und von den Studierenden und dem Netzwerk der University of Chicago dankbar angenommen. Es steht in der gleichen Straße eines berühmten Nachbargebäudes: der Bibliothèque François Mitterrand (1996), von Dominique Perrault mit den vier markanten Büchertürmen entworfen.

Die US-amerikanische Architektin Jeanne Gang gilt als Pionierin einer nachhaltigen und sozialen Architektur.

Überraschende Campusarchitektur

Auch wenn das Boyer Center direkt über einer Metro-Station liegt, ist der hauseigene Fahrrad- raum selbst bei Regen stark frequentiert. Mit vielen neuen Radwegen und Fahrradstraßen folgt Paris unter Bürgermeisterin Anne Hidalgo Vorreitern wie Amsterdam und Kopenhagen. Der kompakte Neubau ist das erste Paris-Projekt für Studio Gang und begründet ein neues akademisches Zentrum im Herzen Frankreichs. Die Treppe im Inneren des „vertikalen Campus“ wirkt wie ein Labyrinth – erinnert vielleicht sogar an eine Zeichnung von M. C. Escher. In einem Universitätsgebäude erwartet man sie kaum, aber von Jeanne Gang lernen wir: Architektur darf auch überraschen.

Jeanne Gang ist in mehrfacher Hinsicht beeindruckend. Die Ausnahmearchitektin gilt nicht nur in ihrer Heimat, sondern auch weltweit als progressive Pionierin, Vorbild und als zentrale Vordenkerin mit generalistischer Perspektive. Was sich unter anderem auf ihre persönlichen Interessen und Idole zurückführen lässt. Neben der Meeresbiologin und Ozeanografin Sylvia Earle und dem französischen Soziologen und Philosoph Bruno Latour ist die Biologin, Schriftstellerin und Naturschützerin Rachel Louise Carson (1907–1964) für Jeanne Gang eines ihrer großen Vorbilder. Carsons Publikation „Silent Spring“ von 1962 gilt als Ausgangspunkt der US-amerikanischen Umweltbewegung. „Ihre Warnung vor den Auswirkungen von Chemikalien für lebende Organismen, insbesondere Vögel, war ein Weckruf“, betont Jeanne Gang. „In den Vereinigten Staaten trug Carsons Buch zur Gründung der Environmental Protec- tion Agency und zum Verbot von DDT und anderen Umweltgiften bei. Sie ist eine Heldin!“ Das gebaute Werk von Studio Gang ist nicht nur umfangreich (ein Teil wurde in zwei Monografien veröffentlicht), sondern auch schwer fassbar. Da stehen Eyecatcher-Wolkenkratzer wie der Aqua Tower – ein 82-geschossiger Wohn- und Hotelturm in Chicago, für den Studio Gang 2010 weltweite An- erkennung erhielt neben einer Reihe von kleinen Community-Centern, Museumsgebäuden wie dem Erweiterungsbau für das American Museum of Natural History in New York City und einer neuen Parkanlage am Ufer des Mississippi von 2023. Im Portfolio des internationalen Architekturbüros finden sich seit der Gründung vor 28 Jahren ebenso unterschiedlichste Bauaufgaben wie auch völlig verschiedene Projektgrößen. Denn ihre Karriere hat Jeanne Gang damit begonnen, Gemeindezentren in kleinen Vierteln rund um Chicago zu entwerfen – eine Bauaufgabe, die sie bis heute weiterverfolgt.

Verborgenes Potenzial

Der gemeinsame Nenner, der alle Studio-Gang- Entwürfe verbindet, ist weniger eine einheitliche Gestaltungssprache als die Motivation von Jeanne Gang, Orte für sozialen Austausch und ein Mit- einander zu erschaffen. Und die Wiedererkenn- barkeit in der Herangehensweise. Gang entwirft ihre Projekte unter dem Leitsatz „Starting with what’s there“, um das oft verborgene Potenzial Bengt Sjostrom Starlight Theatre, Rockford 2003 Ein Dach, das sich wie eine Blüte zum Himmel öffnet: Das Bengt Sjostrom Starlight Theatre am Rock Valley College im US- Bundesstaat Illinois beeindruckt mit seiner beweglichen Dachkonstruktion. Studio Gang verwan- delte das Freilufttheater vor über 20 Jahren in eine Bühne für Architektur und Natur bestehender Standorte oder Gebäude freizulegen. Daraus hat die Architektin eine eigene Philosophie entwickelt: „Architectural Grafting“. In Analogie zum Prozess des Pfropfens aus der Botanik versteht sie dies als eine Architektur, die auf dem schon Vorhandenen aufbaut und gleichzeitig um neue, zeit- gemäße und zukunftsfähige Qualitäten ergänzt: eine Architektur, die sich neu erfindet. So wie es das bereits erwähnte Richard Gilder Center in New York City vormacht. Womit es gleichzeitig bestens demonstriert, wie sich das theoretische Werk von Jeanne Gang mit ihrer gebauten Arbeit verbindet.

Jeanne Gang erinnert uns daran, dass jede Form von Bauen mit Verantwortung verbunden ist. Die Architektin bezeichnet sich selbst als eine Art „Pollinator“ zwischen den Bürostandorten. Sie arbeitet in den verschiedenen Kontexten und vermittelt zwischen den Kontinenten. Wenn sie in Paris ist – oder auch an einem neuen Ort, den sie erkundet –, macht sie am liebsten als Erstes einen Morgenspaziergang für „Birding“. Vogel- beobachtung, so erzählt Jeanne Gang im Interview, verbindet sie wirklich mit einem Ort: „Um Architektur zu schaffen, die nachhallt, hilft es, die Natur zu verstehen.“

Studio Gang: The Art of Architectual Grafting

Studio Gang, Chicago/Paris

  • Eröffnung: Freitag, 11. Juli 2025, 19:00 Uhr
  • Ausstellung: 12. Juli bis 27. August 2025
  • Ort: Christinenstraße 18-19, 10119 Berlin
  • Website: www.aedes-arc.de

Öffnungszeiten Aedes Architekturforum:

  • Montag: 13 bis 17 Uhr
  • Dienstag bis Freitag: 11 bis 18.30 Uhr
  • Sonn- und Montag: 13 bis 17 Uhr

Diese Ausstellung wurde ermöglicht durch die Unterstützung von 

Gira 

jalalld´or 

Kettler 

Laufen 

Paul Mitchell 

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