AW Architekt des Jahres
AW Architekt des Jahres

AW Architekt des Jahres 2023: Sou Fujimoto

Die Architektur von Sou Fujimoto ist aufregend, intensiv, einzigartig. Der AW Architekt des Jahres 2023 ist ein Vordenker für sensible Baukunst, dem es gelingt, auf wunderbare Weise zwischen Natur, Architektur und Menschen zu vermitteln. Der Japaner baut auf verschiedenen Kontinenten und sucht mit jedem Projekt das Unerwartete. Eine Haltung, die er einst auch in den Songs der Beatles gespürt hat. AW Architektur & Wohnen trifft den japanischen Architekten im Atelier von Sou Fujimoto Architects in Paris. 
Text Jeanette Kunsmann
Datum30.06.2023

Regen in Paris. Ein schwarzer Schirm verdeckt den Architekten, als dieser die Treppen zu seinem Atelier hochsteigt. Sou Fujimoto Architects arbeitet im 18. Arrondissement, in einem dieser verwunschenen Pariser Innenhöfe, die sich hinter den schweren Doppeltüren der Haussmann-Fassaden verbergen. Einst waren in der Remise in der Rue de la Chapelle verschiedene Gewerbenutzungen angesiedelt, danach ein Nachtclub. Und heute? Unter dem mit gusseisernen Ornamenten verzierten Hallendach trifft man auf ein junges internationales Team, das hier Häuser und Visionen für morgen entwirft. 

Als Sou Fujimoto sein Architekturbüro im Jahr 2000 in Tokio gründete, war er 29 Jahre alt. Seit 2017 leitet der Architekt eine Zweigstelle in Paris für die Bauprojekte in Europa. Sou Fujimoto Architects beschäftigt insgesamt etwa 80 Mitarbeitende.

Sou Fujimoto stellt den nassen Schirm zum Trocknen ab, er grüßt und sein Lächeln strahlt durch den Raum. Noch kurz einen Espresso im Stehen (er trinkt fast immer Kaffee, selten Tee). Dann geht es los. Projektarchitektinnen und -architekten besprechen mit ihrem Chef dann neue Entwürfe, Pläne und Details. Sie bemustern Materialproben, Gäste kommen vorbei, Croissants aus der Boulan­gerie gegenüber stehen auf dem Tisch. Die besten Klischees bedient noch immer Paris.

"Across the Universe"

Der japanische Architekt kommt gerade aus dem saudi-arabischen Riad, wo er seinen Wettbewerbsentwurf zur Renovierung eines Kulturdorfs vorgestellt hat. Zuvor war er ein paar Tage in Cannes auf der Immobilienmesse MIPIM, von Paris aus wird er bald weiter in den Osten von Frankreich reisen, nach Reims, wo er für Frankreichs ältestes Champagner-Haus Ruinart einen Pavillon entworfen hat. Danach geht es von Europa wieder nach Japan, wo seine Familie lebt. Dort verbringt Sou Fujimoto gerade die meiste Zeit.

Der Architekt plant in seinem Heimatland nicht nur ein großes Gebäude für die Expo 2025 in Osaka, sondern auch den Masterplan. Auf die Frage, wie viele Projekte die beiden Bürostandorte von Sou Fujimoto Architects in Tokio und Paris denn im Moment gerade bearbeiten, folgt ein Achselzucken: "Vielleicht könnten es um die 20 Projekte sein?“ Vornehmlich in Japan und China, aber auch in Europa. Ganz genau kann er das nicht benennen. Der Erfolg von Fujimotos offener Architektursprache ist ohnehin schwer zu beziffern.

Einen Sommer lang begeisterte die abstrakte Wolke das Publikum in Kensington Gardens. Fujimotos Portfolio ist seitdem rasant gewachsen. Sein "Serpentine Pavilion" aus dem Jahr 2013 gehört heute der Luma Foundation und steht vor der Nationalen Kunstgalerie in Tirana, Albanien.

"Tomorrow Never Knows“

Es war 2009, als Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa von SANAA als das zweite japanische Architekturbüro nach Toyo Ito (2002) den "Serpentine Pavilion" in den Londoner Kensington Gardens entwarfen. Ein junger Architekt in Tokio dachte ­damals: „Wenn ich jemals auf diesem heiligen Rasen den Pavillon für die Serpentine Gallery gestalten dürfte, was für ein Traum!" Vier Jahre später, im Sommer 2013, sollte sich dieser Wunsch für Sou Fujimoto erfüllen. Er war 41 Jahre alt, neun Jahre selbstständig und zu diesem Zeitpunkt der bislang jüngste "Serpentine-Pavilion"-Architekt. 

Mit dem temporären Bauwerk erhält seit dem Jahr 2000 jeden Sommer ein Architekturstudio die Möglichkeit, mit einem experimentellen Pavillonentwurf neben der neoklassizistischen Serpentine Gallery zu debütieren. Zaha Hadid, Rem Koolhaas, Frank Gehry, Herzog & de Meuron, Bjarke Ingels, Francis Kéré – was alle Architektinnen und Architekten des "Serpentine Pavilion" gemeinsam haben: ­Sie haben zuvor noch nicht in Großbritannien gebaut. In diesem Sinne fördert das Serpentine-Programm den Architekturexport.

Auch für Fujimoto war der temporäre Pavillon ein Sprungbrett auf das internationale Architekturparkett. Er überraschte mit einer filigranen Matrix aus weißem Stahl, die mal wie eine abstrakte Wolke, mal wie ein begehbares Gerüst oder als organisch-geometrische Struktur in der Parklandschaft schwebt. 

In dem komplexen Kon­strukt aus einfachen Modulen war man eingeladen, zwischen Terrasse und Podium lustzuwandeln. Die Botschaft der Fujimoto-Architektur: Innen und außen verbinden sich zu einem großen Ganzen, zu einem Labyrinth, das sich sowohl auf dem Boden als auch weiter oben wie ein Nest zwischen den Baumkronen erleben ließ.

"Mother Nature’s Son"

Altes auflösen, Neues erfinden, Zukunft gestalten. Die Augen des Architekten leuchten, während er vom "Serpentine Pavilion" erzählt. In den Jahren danach ist sehr viel passiert und Fujimoto stimmt sofort zu, dass der Pavillon sein Schlüsselprojekt darstellt. Wir sitzen im Pariser Atelier, wo ein ausgedrucktes Foto der weißen Wolkenkonstruktion an der Wand neben dem Eingang hängt. "Eine der Grundlagen meines architektonischen Denkens ist die Koexistenz von Natur und Architektur", sagt Sou Fujimoto und führt den Gedanken weiter: "Das ist fundamental und schwierig zugleich, weil Natur und Architektur eigentlich Gegensätze sind. Ich möchte beides gleichermaßen integrieren." Es sei nicht eins und null, erklärt er, sondern lese sich vieldeutiger für ihn: "als eins null, also 10."

Diese Philosophie hängt stark mit seinem persönlichen Hintergrund zusammen. Geboren und aufgewachsen auf der Insel Hokkaido, Nordjapan, hat Sou Fujimoto seine Kindheit vor allem von Natur umgeben verbracht. "Ich habe viel im Wald gespielt", erinnert er sich. "Als Student bin ich dann nach Tokio gezogen, also in eine entgegengesetzte, künstliche, städtische Situation. Für mich waren Hokkaido und Tokio aber keine Gegensätze, sondern mehr wie eine Verschmel­zung. Tokio empfinde ich als einen künstlichen Wald. Dort fühle ich mich wohl und geschützt." 

Sie soll eine Art Arche Noah für Paris werden, die bewaldete Autobahnüberbauung an der Porte Maillot von Sou Fujimoto und Oxo Architectes. Das Projekt „Milles Arbres“ soll die französische Metropole grüner machen – als ein Dorf in der Stadt. Derzeit wird die Realisierbarkeit geprüft.

Gleichzeitig sei Tokio wie ein offenes Feld. "Man kann in Tokio seinen eigenen Weg wählen", betont Fujimoto. Wie man in einem Wald von vielen kleinen Blättern oder Ästen umgeben sei, sei es für ihn prinzipiell auch in der Stadt: "Man ist geschützt, aber der Wald ist nicht geschlossen. Natur und Architektur, Natur und Artefakte sind keine getrennten Elemente, sondern sollten integriert werden." Diese Erkenntnis manifestiert sich für Sou Fujimoto bereits 1994 nach seinem Architekturstudium. Sie bestimmt seine Häuser und Entwürfe bis heute.

Fujimotos radikaler Ansatz, ein Wohnhaus ohne Wände zu bauen, basiert auf der Metapher des Baumes. Im „House NA“ steht man wie auf einem Ast in einer Baumkrone. Das Raumkonzept aus offenen Ebenen, die mit Treppen verbunden sind, macht Sou Fujimotos Theorie einer "primitiven Zukunft" erlebbar: Architektur schafft eine Umwelt, die der Mensch wie ein Nest oder eine Höhle bewohnt.

"There’s a Place"

Im Jahr 2016 eröffnete Fujimoto neben dem Studio in Tokio seine Europa-Dependance in Paris, nachdem er zuvor eine Reihe von französischen Projekten akquiriert hatte. Der Wohnturm "L’Arbre Blanc“ in Montpellier war gerade im Rohbau, ein weiterer Wettbewerb für das Lernzentrum der Polytechnischen Hochschule in Paris gewonnen. In dieser Zeit verbrachte Fujimoto auch viel Zeit in Budapest, wo im Winter 2022 sein "House of Music" seine Eröffnung feierte. 

Es sind Zukunftsgebäude, die so ganz anders aussehen als Häuser, die uns vertraut sind: experimentelle Strukturen, die offen und variabel bleiben und dabei unsere Gewohnheiten infrage stellen. Manchmal zeigen sich die Bauwerke des japanischen Architekten dabei drastisch wie das "House NA" in Tokio, das ganz und gar auf Wände verzichtet – und zwar innen wie außen. Manchmal lesen sie sich auch als gebaute Metapher wie der "L’Arbre Blanc" in Montpellier. 18 Geschosse hoch streckt sich der strahlend weiße Riesenbaum am Flussufer in die Höhe. Mehr als 100 Riesenbalkone strecken sich wie Äste in alle Himmelsrichtungen dem Horizont entgegen.

Seine Architektur ist radikal. Das Gewöhnliche interessiert den 51-Jährigen nicht besonders. Es existiert ja bereits. Fujimoto erfindet neue Typologien und Formen. Architektur bedeutet für ihn, "die Welt auf eine neue Weise zu betrachten und Zukunft zu gestalten". Sou Fujimoto lächelt. Das hat ihn schon als junger Mensch fasziniert, deshalb ist er Architekt geworden. 

"Das Schönste an meinem Beruf ist, dass man immer wieder bei null anfängt. Ort, Hintergrund, die kulturelle Geschichte, die Vision des Auftraggebers, die klimatischen Bedingungen unterscheiden sich von Projekt zu Projekt", meint der Architekt, der sein Büro von Beginn an international ausgerichtet hat. Von Japan in die Welt – mit dem Antrieb, "bessere Orte für Menschen zu bauen".

Outdoor-Living in Südfrankreich: Jedes der 113 Apartments im „L‘Arbre Blanc“ von Architekt Sou Fujimoto verfügt über einen eigenen Balkon mit einer Größe zwischen 7 und 35 Quadratmetern. Gleichzeitig dienen die auskragenden Balkone als Sonnenschutz. Die Rooftop-Bar ist öffentlich.

"We Can Work It Out"

Fujimotos Entwurf für den Wohnturm "L‘Arbre Blanc" überträgt seine experimentellen Ansätze aus Japan auf Europa und den mehrgeschossigen Wohnungsbau. Weniger radikal, aber dennoch progressiv. Lockt das südfranzösische Montpellier mit 300 Sonnenstunden im Jahr nach draußen, antwortet das extravagante Baumhaus mit riesigen Balkonen. Bis zu 7,5 Meter ragen die Terrassen wie lange Äste aus einem Stamm heraus, wobei der größtmögliche Balkon 35 Quadratmeter Außenbereich bietet. Eine Sensation – nicht nur für den französischen Wohnungsbau. 

 

Das Team von Sou Fujimoto hatte den Wettbewerb für "L'Arbre Blanc" 2014 in einer Kooperation mit den französischen Architekturbüros Nicolas Laisné, Dimitri Roussel und Manal Rachdi Oxo Architectes gewonnen.

Die Anfrage für das Projekt kam 2013 von den jungen Pariser Architekten Nicolas Laisné, Dimitri Roussel und Manal Rachdi, die sich in der Arbeitsgemeinschaft mit Sou Fujimoto Architects aus Tokio im Wettbewerbsverfahren durchsetzen konnten. 2013 war ein magisches Jahr für Sou Fujimoto.

"In einem Haus zu wohnen, ist wie in einem Baum zu wohnen" lautete die Hauptthese der Ausstellung "Sou Fujimoto. Futurospektive Architektur" in der Kunsthalle Bielefeld, die 2012 u. a. sein berühmtes "Final Wooden House" als 1:1-Nachbau in Deutschland vorstellte. "Die Architektur als Wald ist die Natur der Zukunft, die Architektur der Zukunft." Primitive Zukunft nennt Fujimoto sein Konzept. Es bildet das theoretische Gerüst für alle Projekte. Auch seine anspruchsvolle Holzkonstruktion für die Expo 2025 in Osaka, Kansai mit einem begehbaren Ringdach, das 600 Meter Durchmesser misst, wird darauf basieren.

Sou Fujimoto in der Rue de la Chapelle auf dem Weg zu seinem Pariser Studio.

"Tell Me What You See"

Wie Sou Fujimoto von der Natur in Hokkaido zur Architektur gekommen ist? Nun, der Vater studierte Medizin und arbeitete als Psychiater. Zugleich hatte er sich der Kunst verschrieben, schuf Bilder und Skulpturen. Aus diesem Grund fanden sich im Elternhaus Fujimotos viele Bildbände über Henry Moore und Picasso, aber auch ein Architekturbuch über Antonio Gaudi. "Meine erste Begegnung mit Architektur", erinnert sich Sou Fujimoto. Da war er 14 Jahre alt. Als Schüler interessierte er sich mehr für Physik und Mathematik. Fasziniert von Einstein und Heisenberg, wollte er Physiker werden – und landete dann an der Universität in Tokio doch bei der Architektur. Einer der ersten Bauten Fujimotos ist eine psy­chi­a­trische Klinik im Auftrag des Vaters. Die sensi­blen zwischenmenschlichen Beziehungen, Nähe, Distanz und nicht physische Beziehungen fließen seitdem in seine Entwürfe mit ein. Architektur ist für ihn nicht statisch, sondern Bewegung. Physische Grenzen sollen sich in Fujimoto-Gebäuden visuell auflösen. Es sind filigrane Konstruktionen, subtile Räume der Unschärfe. Wälder und Wolken.

Wäre seine Architektur eine Speise, wäre sie am ehesten ein japanisches Nabe. Darin verbänden sich unterschiedliche Geschmäcker zu einer Harmonie des Ganzen, erklärt der Architekt. Und er hofft, dass seinen Gebäuden Ähnliches gelingt. Dann erzählt Fujimoto noch, was für ihn wahrer Luxus ist ("Zeit mit meiner Familie"), warum er seinen Instagram-Account tatsächlich selbst pflegt ("for fun"), was sein Lieblingsgebäude ist ("die Hagia Sophia in Istanbul") und wen er mit seinem Wohnhaus beauftragen würde ("Frank Gehry"). 

Beim Thema Musik schwärmt er von den Beatles: Bis zur Highschool war Sou Fujimoto absoluter Fan der Fab Four: „Vermutlich war ihre Musik das erste Kreative, was mich fasziniert hat.“ Mit den Beatles fing für ihn damals etwas Neues an. Die Suche nach Neuem wird ihn immer begleiten. 

PRIMITIVE FUTURE – EVERYTHING IS CIRCULATING

Sou Fujimoto Architects, Tokio/Paris

  • Eröffnung: Freitag, 14. Juli 2023, 18.30 Uhr
  • Ausstellung: 15. Juli bis 30. August 2023
  • Ort: Aedes Architekturforum, Christinenstraße 18-19, 10119 Berlin

Zur Eröffnung sprechen Hans-Jürgen Commerell (Aedes, Berlin), Yasuhiro Kitaura (Leiter der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit und Kultur, Botschaft von Japan in Deutschland) und Sou Fujimoto.

Öffnungszeiten Aedes Architekturforum:

  • Montag: 13 bis 17 Uhr
  • Dienstag bis Freitag: 11 bis 18.30 Uhr
  • Sonn- und Feiertag: 13 bis 17 Uhr
  • Samstag, 15. Juli 2023, 13 bis 17 Uhr

Diese Ausstellung wurde ermöglicht durch die Unterstützung von:

Laufen
Godelmann
Dedon
Gira
Actiu
Panoramah

Aedes Kooperationspartner:

Zumtobel
Cemex
Camerich