Architektur
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Architektur-Spaziergang durch New York City mit Michael Kimmelman

New York ist wieder hellwach. Nach coronabedingtem Stillstand suchte der Architekturkritiker Michael Kimmelman vertraute und neue Orte auf. Er stellt fest: Seine Heimatstadt bleibt sich treu – und wandelt sich mit aufsehenerregenden Bauten von Brooklyn bis Long Island.
Text Claudia Steinberg
Datum25.04.2023

An einem verhangenen, milden Frühlingstag mitten in der Woche ist das "Little Island" (1) ausnahmsweise nahezu menschenleer. Michael Kimmelman, der Architekturkritiker der "New York Times", nutzt die seltene Gelegenheit zu einem meditativen Rundumblick: auf den unruhigen Hudson River und die gegenüberliegenden Hochhäuser von Jersey City, auf die winzige Freiheitsstatue in der Ferne und die ebenso filigrane wie monumental wirkende Skulptur "Day's End" von David Hammons (2) gleich nebenan. Dieses Kunstwerk zeichnet in silbernen Linien die Kontur eines der früher so zahlreichen, längst abgerissenen Lagerhäuser als zartes Erinnerungsbild nach. Hier beginnt Kimmelmans Streifzug durch seine Heimatstadt New York City. 

Am Pier 55 befindet sich der künstliche Inseplark "Little Island" von Thomas Heatherwick. Die 132 unterschiedlich hohen Betonpfähle gleichen überdimensionalen Pflanzenkübeln, die eine 2,4 Hektar große Parkfläche entstehen lassen.

Am Pier 55: "Little Island" von Thomas Heatherwick 

Vom Pier 54 (3), wo 1912 die Überlebenden der "Titanic" landeten, existieren nur noch ein paar Holzstumpen im Wasser. Sie inspirierten den britischen Architekten Thomas Heatherwick, den verspielten Stelzenpark "Little Island" in den Fluss zu pflanzen: Moos, Gras, Blumen, Sträucher und sogar Bäume sind in die Kelche einer Schar langstieliger Tulpen aus Beton eingetopft. Man wandelt auf gewundenen Pfaden durch eine hügelige, kunstvolle Landschaft wie aus einem Märchenbuch. 

"Das Ganze erinnert eher an ein Folly aus dem 18. Jahrhundert als an einen öffentlichen Park", sagt Kimmelman über das 250-Millionen-Dollar-Projekt, das der Medienmogul Barry Diller finanzierte. Die heitere Oase mit dem grandiosen Ausblick eröffnete im Mai 2021 und wurde mit ihrem Open-Air-Programm während der Coronapandemie schnell zu einem beliebten Zufluchtsort.

Auf Tour im NYC-Kosmos: Jackson Heights und Long Island City

Als die vielstimmige Metropole New York City mit Covid plötzlich wie unter einem Zauberspruch erstarrte, begab sich Kimmelman auf lange Spaziergänge durch das nun auf einmal verstummte und unvertraute Manhattan, vor allem aber reiste er mit der U-Bahn in ihm zuvor sehr ferne Stadtviertel: "Es war, als würde die Stadt nie aufhören", erklärt der 64-Jährige, der in Greenwich Village als Sohn einer Bildhauerin und eines Augenarztes mit sozialistischer Gesinnung aufwuchs. In diesem damals noch eher ärmlichen, aber ungemein kreativen urbanen Dorf mit Großstadtkriminalität verbrachte er eine heute – fast undenkbar – unüberwachte Kindheit, deren Entdeckerfreude er sich bewahrte: "Jede Station offenbarte ein anderes Universum." Auch wenn in Jackson Heights (4) in Queens viele Geschäfte hinter Rollläden verborgen blieben und die zahllosen indischen Restaurants geschlossen waren.

Inzwischen leuchten aus den Schaufenstern wieder Saris in Magenta und Türkis, opulent bestickte Schals und silberbeschlagene Möbel. Die Düfte von Gerichten von lateinamerikanischen oder asiatischen Food Carts und der Rauch von Barbecues mischen sich in die sinnliche Turbulenz. Alle paar Minuten rattert die Subway hier auf einer fast hundert Jahre alten Trasse über die Köpfe der kosmopolitischsten Bevölkerung der Welt hinweg und übertönt die Stimmen aus 167 Sprachen, die hier gesprochen werden. "Das Interessante ist, dass sich die Menschen aus diesen unterschiedlichen, nicht selten verfeindeten Kulturen keineswegs plötzlich in die Arme fallen, aber hier schaffen sie es gezwungenermaßen, miteinander auszukommen", konstatiert Kimmelman mit einiger Bewunderung. 

Nur ein paar Stopps mit dem schwankenden ETrain der Skyline weiter liegt Long Island City (5), eine vitale Mischung aus Industriebauten und bescheidenen, über hundert Jahre alten Häusern und nicht zuletzt dem PS1 (6), einem weltweit bekannten Museum für zeitgenössische Kunst, das im ältesten Schulgebäude der Stadt untergebracht ist. Der Weg von dort Richtung East River zum Isamu Noguchi Museum (7) zieht sich hin, doch der Skulpturengarten mit dem blühenden japanischen Trauerkirschbaum ist ein Ruhe verströmender Zen-Raum. Als passionierter Pianist, der Bach Toccaten und Chopin in Konzerten spielt, ist Kimmelman auch einm Connaisseur der Stille.

Moynihan Train Hall – Symbole für die Metropole

New York hat irgendwann die Rastlosigkeit zum Credo erkoren, und so haben seine Bahnhöfe nicht nur praktische, sondern auch symbolische Bedeutung. Inmitten des akuten Elends der Pandemie wurde eine alte Wunde der Stadt geschlossen, die durch den Abriss des prächtigen von den bahnbrechenden Architekten McKim, Mead and White 1910 errichteten Beaux-Arts-Bahnhofs im Herzen von Midtown Manhattan entstanden war. 

Bereits vor Jahrzehnten plädierte der demokratische Senator Dan Moynihan dafür, das grandiose, doch zunehmend obsolete Postamt mit der imposanten Treppe im Westen, das ebenfalls von diesen prägenden Architekten geplant wurde, zu einer neuen Bahnhofshalle namens Moynihan Train Hall (8) umzufunktionieren. 

"Er sah Penn Station als Stimmungsbarometer und wusste, dass man einen noblen Bau an diesem Ort brauchte, um den Verlust zu verschmerzen", meint Kimmelman und verweist auf das Glasgewölbe mit Deckengemälden von Kehinde Wiley. Das monumentale Triptychon zeigt schwarze und Latino-Breakdancer in wirbelnder Bewegung, inspiriert von den Nymphen, Göttern und Helden, die sich in den Himmelsfresken des Rokoko-Meisters Tiepolo tummeln. 

Anderswo lassen Elmgreen & Dragset skulpturale Versionen lokaler Wolkenkratzer von der kathedralhohen Decke hängen, und die Rockwell Group hat der Wartehalle mit Bänken aus Nussbaum mit viel Licht und viel Marmor Würde und Komfort verliehen. "New York braucht das. Symbole sind wichtig! Denn eine Stadt ist nur so gut wie ihre öffentlichen Räume. Während der Pandemie erwiesen sich die Parks, die spontan gezimmerten Freiluftrestaurants und die Bibliotheken mit all ihren Hilfeleistungen als Rettungsleinen." 

Vorderansicht der Adams Street Library in Brooklyn, New York.

Ausflug nach Dumbo – Adams Street Library in New York 

Von unserem Treffpunkt bei einem Floristen auf der Upper West Side, der zwischen opulenten Orchideen und Rosenbouquets an ein paar Tischchen Kaffee serviert, ist es weit bis nach Dumbo in Brooklyn, doch die Expedition zur Adams Street Library (9) führt direkt ins historische Herz der früheren Industriegegend im Schatten der Manhattan Bridge. 

Das Nine Orchard ist in einem Wahrzeichen der Lower East Side untergebracht. Die ehemalige Jarmulowsky Bank wurde sorgfältig restauriert und in ein elegantes Hotel umgewandelt.

Ganz nah am East River hat die von Amale Andraos und Dan Wood kreierte Firma Work/ac in einer einstigen Torpedofabrik aus dem frühen 20. Jahrhundert für Kimmelman ein "kleines Meisterwerk" geschaffen. Auf einem vier Meter hohen zinnoberroten Streifen am Fuße der restaurierten Backsteinfassade steht in überlebensgroßen weißen Lettern stolz das Wort "LIBRARY". 

Auch innen legte das Team die Ziegelwände frei, restaurierte die immensen Fenster, exponierte die rohen Holzdecken sowie einen "Säulenwald" und kreierte Wandbilder mit Unterwassermotiven. Die glühende Signalfarbe am Eingang setzt sich auch innen als poppiges Leitmotiv fort: Es rahmt Öffnungen zu anderen Räumen ein, illuminiert den theatralischen Treppenaufgang zu einem stillen Leseversteck und glimmt aus abgeschotteten Arbeitsecken. 

Der warme Gestus des Hauses soll auch lesende Menschen aus der immensen Farragut Mietskaserne und dem Vinegar-Hill-Viertel in die längst ultracoole Nachbarschaft locken. "Ich bin für Gentrifizierung, für die Investition in vernachlässigte Viertel, aber sehr gegen die Deplatzierung der ursprünglichen Bevölkerung."

Ein dreiviertelstündiger Fußweg führt über den East River zurück zur Lower East Side. Dort steht die ehemalige Jarmulowsky Bank, ein Baudenkmal im Stil der Neo-Renaissance, das zum Nine Orchard Hotel umgebaut wurde. Es bietet 116 schöne Zimmer, die viel von der alten Pracht bewahren. 

Lobby und Zimmer des Nine Orchard sind mit originalen Neorenaissance-Details und neuartiger Handwerkskunst ausgestattet.

Das Beste am Hotel ist allerdings die Küche von Ignacio Mattos, New Yorks angesagtestem Gastronom. In der Corner Bar werden sowohl das Frühstück als auch das Abendessen serviert. Zu den Restaurants des aus Uruguay stammenden Küchenchefs gehören auch das Estela und das Altro Paradiso.

Ziel des Architekturbüros Adjaye Associates war es, die architektonische Schönheit des ursprünglichen Gebäudes, das zur Eislagerung genutzt wurde, zu erhalten. Die neue Einrichtung der DREAM Chater School enthält ursprüngliche Fragmente wie freiliegenden Stahlkonstruktionen, roten Ziegelsteine, Tonnengewölbe und große Bogenfenster.

Architektur als Triebfeder der Erneuerung: Die DREAM Charter School

Die South Bronx hat noch immer einen schlechten Ruf, doch der Blick über das kalte Blau des Harlem River auf die DREAM Charter School (10) mit ihrem gigantischen Billboard auf dem Dach einer einstigen Eisfabrik ist atemberaubend. Michael Kimmelman ließ sich von Sir David Adjaye durch die nun prächtigen, polierten, lichtdurchfluteten Räume des jahrzehntelang verwaisten, feuchten und dunklen Industriegebäudes führen. 

"Zwei wie Kaleidoskope verspiegelte Lichtschächte bringen Tageslicht bis ins tiefste Zentrum des Gebäudes", kommentiert Kimmelman bewundernd. Am Tag der Eröffnung kehrte er wieder zurück, und die Schüler hatten ihre neue Umgebung längst mit wilder Freude erobert. 

Die Radio City Music Hall gehört zum Rockefeller Center. 1932 eröffnet, fanden dort Radioausstrahlungen und Filmvorführungen statt. Heute sind es Shows und Konzerte.

Für den Kritiker ist das lange verlassene, nur von Tauben bewohnte Gebäude mit seinen grandiosen Tonnengewölben ein Paradebeispiel für Architektur als Triebfeder der Erneuerung: "Städte haben schon immer Erhaltung und Fortschritt ausbalanciert und den Niedergang als Gelegenheit genutzt. Wir leben alle mit den Geistern der Vergangenheit." Manche dieser Geister scheinen so vertraut wie das Rockefeller Center, dessen ikonische Gestalt Kimmelman mit geschlossenen Augen heraufbeschwören kann. 

Die Channel Gardens sind bekannt für ihre saisonalen Blumenbeete und ihre beeindruckende Architektur.

Doch in der Covid-Schwebe brauchte er dringend eine Dosis der "unerschütterlichen Herrlichkeit" seiner Stadt. So ließ er sich von Daniel Okrent, einem Experten für den Art-Deco-Komplex, die diesem Meisterwerk zugrunde liegenden Ideen erklären, wie die Flankierung des kostspieligen Channel Gardens (11) von zwei niedrigen, höchst unikonischen Gebäuden im Dienste proportionaler Finesse: "Er erzählte mir von der Unterwelt, in die alle Lieferfahrzeuge zum RCA-Building (12) geleitet werden, mit dem erstaunlichen Effekt, dass es ausgerechnet zwischen Fünfter und Sechster Avenue ziemlich still ist."

Der Bahnhof Grand Central Madison ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Die neuen Wandmosaike von Yayoi Kusama und Kiki Smith sind fast noch ein Geheimtipp, so Michael Kimmelman.

New Yorks Silhouette im Wandel: Grand Central Madison

"Heute lassen sich in unserer zugebauten Metropole städteplanerische Vorhaben dieser Größenordnung und Ambition kaum noch umsetzen", sagt Kimmelman. Doch überraschend wurde soeben ein bereits 1963 geplanter Bahnhof unter dem berühmten Grand-Central-Beaux-Art-Bau fertiggestellt. "Er ist so gigantisch, als hätten wir das Chrysler Building fünfzehn Meter unter der Erde in der Horizontalen gebaut." 

Die steile Rolltreppe führt in einen gleißenden Untergrund, dessen Wände an einigen Stellen mit Mosaiken von Yayoi Kusama und Kiki Smith dekoriert sind. "Ich liebe Kikis Arbeiten", schwärmt Kimmelman von ihrem Reh auf einer Lichtung und einer Schar von Truthähnen im Gebüsch: Bilder von anrührender Feinfühligkeit in all der Kühle. 

Der Architekt Rafael Viñoly entwarf mit "432 Park Avenue" einen 425 Meter hohen Skyscraper, der wie ein Ausrufezeichen in Midtown aufragt. Der Turm war 2016 das einhundertste unter den Gebäuden ab 300 Metern.

Bisher ist Grand Central Madison noch fast ein Geheimtipp, doch Kimmelman hofft auf den Erfolg der exquisiten Untergrundgalerie: "Wenn man für erhöhte Kapazität baut, kommen die Leute irgendwann." An der Oberfläche versucht sich die neue Generation extrem schlanker und hoher Türme ihren Platz in der Skyline zu erobern. Rafael Viñolis Bau an der Park Avenue (13) in Midtown, beeinflusst von der radikalen Geometrie des minimalistischen Bildhauers Sol LeWitt, ist Kimmelmans Favorit unter den kontrovers diskutierten Projekten. 

Mehr zum Thema: Die außergewöhnlichsten Wolkenkratzer in Manhatten

Schon aus Prinzip ist der Autor nicht gegen die Veränderung der berühmten Silhouette New Yorks. "Die permanente und rapide Metamorphose ist in der DNA der Stadt verankert", sagt er, "wir sind, was wir bauen, im Guten wie im Schlechten."