Architektur
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Smart Forest City Cancún: Stefano Boeri plant die grünste Stadt der Welt

An der mexikanischen Karibikküste Cancún plant der Mailänder Architekt Stefano Boeri eine sich selbst versorgende Zukunftsstadt. Eine faszinierende autarke Insel mitten im Wald, in der heute das Morgen erdacht und erprobt wird: Smart Forest City Cancún – die grünste Stadt der Welt.
Text Peter Würth
Datum06.01.2023
Stefani Boeri: Der Mailänder Architekt ist der Großmeister des Bauens mit Bäumen – ob vertikal oder horizontal. Seine Häuser, Viertel und Städte verschwinden fast unterm dominierenden Grün.

Dass der Mailänder Architekt Stefano Boeri kein versponnener Utopist ist, hat er inzwischen hinlänglich bewiesen. Boeris grüne Visionen sind rund um die Welt fantastische Realität geworden. Ein Hochhaus als senkrechter Wald? Der Bosco Verticale in Mailand zählt 800 Bäume und fast 20.000 andere Pflanzen und ist längst zu einem neuen Wahrzeichen der norditalienischen Metropole geworden. Eine ganze Stadt für 30.000 Menschen, deren Häuser von einer Million Pflanzen, darunter alleine 40.000 ausgewachsene Bäume, bedeckt sind? Bitte schön: Im chinesischen Liuzhou, in der bergigen Provinz Guangxi, entsteht gerade diese Waldstadt auf 175 Hektar entlang des Liujiang River. 200 Gebäude – Büros, Wohnhäuser, Schulen, Kliniken, Hotels –, die unter ihrem grünen Dach fast verschwinden. 10.000 Tonnen CO2 können die Pflanzen im Jahr absorbieren und so der Luftverschmutzung in der 1,5-Millionen-Einwohner:innen-Stadt Liuzhou entgegenwirken.

Smart Forest City Cancún – eine innovative Insel im Wald

Und nun das: Für das mexikanische Cancún an der Küste der Halbinsel Yucatán haben sich der umtriebige Stefano Boeri und sein Team eine fast vollständig autarke Smart Forest City ausgedacht; ein komplett neues, nachhaltiges Stadtkonzept, das alle Bereiche vom Verkehr über die Energie- und Wasserversorgung bis hin zur Ernährung einbezieht. "Smart Forest City Cancun ist ein botanischer Garten in einer modernen Stadt, basierend auf dem lokalen Erbe der Ureinwohner und deren enger Verbindung zwischen Natur und spiritueller Welt", sagt der Architekt Stefano Boeri. "Es ist ein urbanes Ökosystem, in dem Natur und die Stadt eng miteinander verbunden sind und als eigenständiger Organismus agieren." Die "grünste Stadt der Welt" würde, wenn sie realisiert wird – Boeri wartet noch auf eine Baugenehmigung –, Platz für 130.000 Menschen bieten und auf 557 Hektar wie eine grüne Insel mitten in einem riesigen Waldstück unweit der Küste südlich von Cancún angesiedelt, auf dem ursprünglich ein überdimensionales Einkaufszentrum entstehen sollte. "Damit können wir eine große Fläche, die sonst mit Malls bebaut würde, der Vegetation zurückgeben", so die Planenden.

"Smart Forest City Cancún ist ein botanischer Garten in einer modernen Stadt, basierend auf dem lokalen Erbe der Ureinwohner und deren Verbindung zwischen Natur und spiritueller Welt."
Stefano Boeri

Das Bepflanzungskonzept der Botanikerin und Landschaftsarchitektin Laura Gatti veranschlagt pro Kopf rein rechnerisch 2,3 Bäume – insgesamt rund 300.000 Stück. Dazu kommen über sieben Millionen weitere Pflanzen aus 400 unterschiedlichen Arten an den begrünten Fassaden und Dächern sowie zwischen den Gebäuden. So kommen insgesamt 400 Hektar Grünfläche zusammen – eine gute Balance zur geplanten Gebäudefläche. Berechnungen zufolge kann die Forest City jährlich 116.000 Tonnen Kohlendioxid absorbieren und rund 5.800 Tonnen CO2 pro Jahr speichern. Die Stadt soll nicht nur kein Treibhausgas produzieren, sondern auch aktiv Kohlenstoff binden.

Die Sonne wird optimal genutzt

Boeri genügt es aber bei Weitem nicht, die Forest City grün zu machen und für gute Luft zu sorgen. Er hat eine innovative Stadt fürs 21. Jahrhundert entworfen, die viel mehr kann und vor allem viel weniger verbraucht. Thema Energie: Große Felder von Sonnenkollektoren am Rand der Stadt machen diese unabhängig. Die Flächen unter den Kollektoren werden für den Lebensmittelanbau genutzt. Die Sonneneinstrahlung ist so hoch und regelmäßig, dass es tagsüber einen Überschuss an solarer Energie gibt. Speicher sorgen dafür, den nächtlichen Bedarf zu decken. damit die Energie optimal genutzt wird, sollen Sensoren in den Gebäuden Daten sammeln, um den Bewohner:innen sinnvolle Vorschläge zur Energienutzung zu machen. So können sie die Wasch- oder Spülmaschine genau dann einschalten, wenn der meiste Strom produziert wird und damit am günstigsten ist. Smartes Energiemanagement auf ganz lokaler Basis.

Lagunenstadt: Wasser ist ein beherrschendes Thema der Smart Forest City Cancun. Es wird aus Meerwasser gewonnen.

Smart Forest City Cancún: Wasser aus der Karibik

Ähnlich innovativ wird in der Smart Forest City das Thema Wasser, eines der zentralen Elemente des Projekts, behandelt. Aus der Draufsicht erkennt man, dass die Stadt wie in einem See zu schwimmen scheint und die Forest City selbst von schiffbaren Kanälen durchzogen ist. "Wassergärten" sollen die Stadt vor Überschwemmungen schützen.Stefano Boeri: "Forest City Cancun ist ein Projekt sehr nah am Meer. Wir arbeiten hier mit dem deutschen Büro Transsolar zusammen. Sie haben nach einer Möglichkeit gesucht, das Meerwasser zu entsalzen. Das ist wichtig, denn wir werden an diesem Ort Millionen Pflanzen setzen. Die Zukunftsstadt an der Karibikküste ist für 120.000 bis 130.000 Menschen ausgelegt.

Transsolar hat einen Puffer um die Stadt entworfen mit Solarpaneelen, die den Großteil der Energie liefern. Es gibt Gewächshäuser für den Anbau von Gemüse, die sich ebenfalls um die Stadt gruppieren."Das Konzept von Transsolar sieht vor, dass Wasser über eine unterirdische Rohrleitung aus dem nahen Meer herangeführt, am einen Ende der Stadt gesammelt, entsalzt und dann durch die Kanäle bis hin zu den Feldern, die die Stadt umgeben, geleitet wird. Diese landwirtschaftlichen Flächen sind das Rückgrat der Lebensmittelversorgung für die Bevölkerung. Für Menschen und Waren haben Stefano Boeri und sein Team ein Mobilitätskonzept erstellt, das auf private Autos in der Stadt komplett verzichtet. Diese werden am Stadtrand abgestellt und Bewohner:innen wie Besucher:innen machen sich entweder zu Fuß oder mit Fahrrädern auf den Weg oder steigen in halbautonome Elektrofahrzeuge um, um ihr Ziel zu erreichen. Die ganze Stadt ist so geplant, dass jeder Punkt innerhalb weniger Minuten erreicht werden kann.

Stadt der Selbstversorger: Solarpaneele produzieren Energie, während darunter Nutzpflanzen die Nahrungsgrundlage für die Bewohner liefern.

Smart Forest City Cancún – ein Campus der Innovationskraft

Die Smart Forest City wird nicht nur planerisch etwas ganz Besonderes werden, auch ihre Bewohner werden in die Zukunft schauen. Köpfe aus der Forschung, Lehrende und Studierende sollen einen Hightech Innovation Campus bevölkern, denn Boeri sieht die Stadt als ein großes Entwicklungslabor, als einen Nukleus für interdisziplinäre Zukunftsforschung auf Gebieten wie Molekularbiologie, Robotik oder Informationstechnologie. Es wird um Bio-Gesundheit und die Wiederherstellung von Korallenriffen gehen, um regenerative Technologien und innovative Präzisionslandwirtschaft, natürlich um Smart Citys und um die Mobilität von morgen. Forschungsinstitute, internationale Organisationen und Unternehmen sollen hier zueinanderfinden – und dabei die Stadt selbst gleichzeitig als ein einziges großes Nachhaltigkeitsexperiment erleben.

Sie alle sollen sich vor allem in der Smart Forest City Cancun wohlfühlen im mexikanischen Klima. Dazu gilt es gänzlich neu zu denken, denn klassische Klimaanlagen sind verständlicherweise in einer nachhaltigen Stadt tabu. Die Lösung liegt in halboffenen Gebäuden, bei denen die Grenzen zwischen drinnen und draußen verschwimmen. Mit Fotovoltaik betriebene Wärmetauscher geben Abwärme ins umgebende Wasser ab. Eine aufgelockerte Bebauung lässt die Meeresbrise zwischen den Gebäuden hindurch wehen und bietet Platz für schattenspendende Bäume oder Schirme.Verschiedene Arten von Wohnungen und Häusern sollen den unterschiedlichen Bewohner:innengruppen entgegenkommen. Dazu gehört auch bezahlbarer Wohnraum für Studierende und junge Forschende. Schließlich soll die Smart Forest City Cancun kein Getto für Wohlhabende werden.

Smart Forest City Cancún: Daten machen das Leben einfacher

Eine große Rolle in der Stadt der Zukunft spielen Daten. Sensoren in den Gebäudewänden sammeln und teilen relevante Informationen, die zentral analysiert werden. Daraus resultieren Vorschläge, die den Bewohner:innen das tägliche Leben erleichtern. In einer App könnten die Menschen zum Beispiel sehen, wo in der Stadt der Aufenthalt gerade besonders angenehm ist oder wo einem die Hitze wirklich zu schaffen macht. Dabei legt Stefano Boeri großen Wert darauf, diese Daten sensibel zu nutzen und die Privatsphäre der Bewohner:innen zu schützen. "Wir wollen mit Daten das Management der Stadt und damit das Leben der Bewohner:innen verbessern", heißt es.

Öffentliche Parks, private Gärten, grüne Dächer und Fassaden bieten nicht nur eine angenehme Abwechslung fürs Auge, sondern schaffen auch eine entspannte Atmosphäre, in der es sich gut arbeiten und leben lässt. Die ausgeklügelte Kreislaufwirtschaft macht die innovative Waldstadt im Wald komplett autark. Die Energie- und Wasserinfrastruktur, das Mobilitätssystem und das Grün-Management von Bäumen, anderen Pflanzen und Landwirtschaft verweben sich in der Smart Forest City Cancun zu einem nachhaltigen Netzwerk, das die Bedürfnisse der Bewohner:innen ebenso im Blick hat wie Umwelt und ökonomische Interessen.

"Es ist ein urbanes Ökosystem, in dem Natur und Stadt eng miteinander verbunden sind und als eigenständiger Organismus agieren."
Stefano Boeri

Smart Forest City Cancún: Eine Pionierstadt für morgen

"Die Anstrengungen, die wir in der Smart Forest City Cancun unternehmen, können die Welt wirklich zu einem besseren Ort machen. Wir reduzieren die negativen Einflüsse auf die Umwelt", so Stefano Boeri. "Die Stadt könnte zum Pionier einer neuen Art menschlicher Siedlungen werden. Eine von Menschen gebaute Stadt für die Natur und Biodiversität." Der Weg zu neuen Lösungen lässt sich für Stefano Boeri mit den vier Rs zusammenfassen: Reduktion, Reparatur, Reuse (Wiederverwendung) und Recycling: "Die Smart Forest City geht auf diese Entwicklungsbedürfnisse ein, indem sie Bildung und wirtschaftliches Empowerment – insbesondere von Frauen – ermöglicht und fördert, indem sie radikal ökoeffizientere Lösungen, Lebensstile und Verhaltensweisen entwickelt, die mit einer Senkung des Gesamtenergiebedarfs und einer Verringerung der Abfallproduktion beginnen."