AW Architekt des Jahres
AW Architekt des Jahres

AW Architekt des Jahres 2018: Alberto Kalach

Datum27.01.2020

Wer etwas über interessante zeitgenössische Architektur erfahren will, muss nach Mexiko-Stadt schauen. Dort definiert Alberto Kalach mit seinen Werken die entspannte Philosophie seines Landes – indem er dem Yang der Großstadt eine feinsinnige Prise Yin beimischt.

BETON MIT GANZ VIEL GEFÜHL

"ICH BRAUCHTE EIN REPRÄSENTATIVES BÜRO. EIN ARCHITEKT MUSS SEINE KLIENTEN BEEINDRUCKEN"

Der südliche Rand des Bosque de Chapultepec, des Central Park von Mexiko-Stadt, ist nicht unbedingt die heimeligste Gegend der Riesenmetropole. Auf der sechsspurigen Straße gibt es kaum Lücken zwischen zwei Autos, die selten schneller vorankommen als im Schritttempo. Der Park ist von hier aus nahezu unzugänglich, eingezäunt von hohen schwarz lackierten Eisengittern. Kleine Einfamilienhäuser säumen die Straßen. Schon seit Längerem wissen sie sich nicht mehr gegen den Zahn der Zeit zu wehren. Die Rollläden der Ge- schäfte und Restaurants bleiben geschlossen. Eine Tankstelle, eine Werkstatt, ein „Oxxo“-Kiosk für das Nötigste – und eine architektonische Offenbarung.

Inmitten dieser Melancholie erhebt sich auf einem schmalen Grundstück purer Optimismus – ein zehnstöckiges Haus, ein schlanker Turm auf schiefer dreieckiger Grundfläche. Die kurze Seite ist bis auf einen kleinen Schlitz pro Etage geschlossene Steinfassade. Die beiden Schenkel sind voll- verglast, wobei sich die der Straße zugewandte Glasfront in den oberen Etagen noch einmal einen dreieckigen Ausbruch aus der Flucht erlaubt. In den unteren beiden Stockwerken dagegen: üppiges Nichts. Den Eingang bilden zwei Luftgeschosse, die es aber in sich haben. Hinter einem Sichtschutz aus Nirosta-Stahl und einem dunklen Holztor versteckt sich der gegenüberliegende Stadtpark in Klein. Ein Dschungel als Foyer. Mittendrin ein Pförtnerhäuschen und ein Aufzug, den nur der Pförtner bedienen kann. Hier im „Torre 27“ ist man sofort angekommen in der Welt des Alberto Kalach, dem interessantesten Architekten Mexikos – und „AW-Architekt des Jahres 2018“.

"EIN GEBÄUDE MUSS IMMER SOFORT ZU VERSTEHEN SEIN. UND EMOTIONEN WECKEN"

In der ersten Etage über den Luftgeschossen hat sich Alberto Kalach (gesprochen „Kallatsch“) sein Studio eingerichtet. Genauer gesagt ist es so, dass man sich beim Verlassen des Fahrstuhls schon wieder in einer Art Urwald befindet. Diesmal bestehend aus dekorativen Palmen – und einer dreistelligen Anzahl ganz eigentümlicher Gewächse, die Botanikern nicht bekannt sein dürften. Es handelt sich dabei um übereinander- getürmte Architekturmodelle, mal aus Wellpappe, mal aus dünnem Sperrholz, so viele, dass ein Architekturmuseum stolz auf die Sammlung sein könnte.

Mitarbeiter sieht man erst auf den zweiten Blick. Besonders viele sind es nicht. Am ersten Tisch: Lorenza Lunas, Pressesprecherin und Büro-Organisatorin. An der Längsseite gibt es eine Werkbank, wo ein Mitarbeiter die Modelle baut. Einer! Ein paar übliche Verdächtige, junge Architekten, weniger als 20, vor Bildschirmen beim Konstruieren. Eine redselige Gruppe um einen runden Tisch: Projektleiter, Klienten – und ein drahtiger Typ, graues T-Shirt, ausgebleichte schwarze Jeans, Boots, kurz geschorener grauer Hinterkopf. Der Chef.

Dass von Alberto Kalach selbst bis hierhin noch nichts zu hören ist, liegt daran, dass er Interviews zu vermeiden sucht. Und Fotoshootings auch. Also nicht unbedingt die geschmeidigsten Voraussetzungen. Aber es gibt Hilfe: Lorenza. Sie erinnert ihren Chef an den lange verabredeten Termin, was der äußerst überrascht zur Kenntnis nimmt. Lorenza rollt mit den Augen. Das kennt sie schon. Nach ein paar weiteren, allerdings nicht sehr überzeugenden Fluchtversuchen stellt er sich schließlich. Auf dem Dach – auch das ein kleiner Park mit noch ein paar Metern mehr Höhenluft, als sie die Metropole auf 2250 Metern ohnehin schon zu bieten hat.

Und mit Blick auf das ewige Grün des Bosque de Chapultepec. Den Platz hier oben hat Alberto Kalach gewählt. Nicht zufällig. Dort fühlt er sich wohl. Pflanzen inspirieren und animieren ihn. „Natur macht Architektur besser, lebenswerter, sanfter“, sagt er mit sonorer Stimme, die die Worte in Stein zu meißeln scheint. Oder im Falle der modernen mexikanischen Architektur: in Beton. Womit bereits ein entscheidendes Element der hiesigen Baukunst beschrieben wäre.

Schon ein bisschen warmgeredet, erzählt Kalach von seinem ersten Job als Student. Ein kleines Gebäude, eine einfache Struktur, ein Raum für Partys. Nur langsam, Stück für Stück, ging es voran. „Es dauerte drei Monate, bis wir halbwegs fertig waren damit. Aber an dem Tag, als wir die Pflanzen reinbrachten, verwandelte sich das gesamte Gebäude mit einem Schlag. Das war die wichtigste Veränderung – in ein paar Stunden!“ Mit geringstem Aufwand größte Wirkung erzielen – ein Aspekt ganz nach dem Geschmack von Alberto Kalach.

Das Grün am und im Gebäude ist für den Architekten in vielerlei Hinsicht ein wesentlicher Faktor. „Ich muss malen, um mich auszudrücken, um zum Beispiel die Wirkung und das Zusammenwirken von Farben zu erkennen. Ein Gärtner malt mit Pflanzen. Ich hätte auch Gärtner werden können.“ Aber er wurde Architekt. Das lag im Wesentlichen an seinem Vater, einem Ingenieur mit großem Faible für besondere Bauwerke: „Er führte mich in die Welt der Architektur ein, zeigte mir bei Spaziergängen interessante Gebäude, schwärmte, lobte, pries. Irgendwann stellte ich mir ein Traumhaus vor, das auf einem Kissen flog.“ Gar nicht so weit entfernt von dieser jugendlichen Fantasie war ein Foto, das Alberto Kalach als eine seiner Initialzündungen beschreibt. Er sah in einem Buch Frank Lloyd Wrights Ikone „Falling Water“.

„Da dachte ich: Ein Haus über einem Wasserfall – es muss Spaß machen, so etwas zu entwerfen.“ Noch ein sehr wichtiges Kriterium für seinen Beruf übrigens: „Man braucht Spaß bei der Arbeit!“

Seine Wohnung, zwei Blocks entfernt vom Studio, ist eine Annäherung an seine erste Architekturfantasie. Nicht auf einem Kissen, nicht über einem Wasserfall, aber auf den Dächern zweier benachbarter Stadthäuser hat er sich sein privates Reich geschaffen, das tatsächlich ein wenig über den Dingen schwebt. „Der Fußboden ist schwimmend verlegt auf dem alten Dach, nicht fest verbunden. Er bewegt sich ein wenig, erst durch den Einbau der Bücherregale bekommt er mehr Stabilität“, erzählt er, während er sich wieder mal eine Zigarette dreht und den Besuchern und sich einen obligatorischen Mezcal einschenkt. Ist ja schon früher Nachmittag.

Eine enge Treppe führt hinauf. Am Wegesrand befinden sich noch zwei kleine Räume: ein Gästezimmer, das meist die längst erwachsenen Kinder, Sohn und Tochter, bei aus- gedehnteren Besuchen nutzen, sowie das Foyer, wenn man die ehemalige Garage, die den Eingang bildet, so bezeichnen will. Hier haben ein Klavier und in Dreierreihen Bilder Platz gefunden, letztere von der Tochter, die als Künstlerin arbeitet.

Der Dachausbau ist Kalach pur: Genau genommen ist es ein üppiger Dachgarten, der netterweise noch ein wenig Platz für ein paar Holzstrukturen mit großen Glasflächen lässt, die als Wohn-, Ess-, Arbeitsraum mit Kochecke, Schlafzimmer und kleines Duschbad nutzbar sind. Das Ganze hat den Charme eines Ferienhauses. Das dachte sich auch der Architekt und nutzte den Entwurf gleich noch einmal identisch für sein Beachhouse am Pazifik. Die Welt der Pflanzen hier oben ist so üppig, dass einige bis an die Scheibe vom Wohnraum drängeln. Eines der Lieblingsdetails von Alberto Kalach: „Ich kann ganz nah ans Fenster gehen und die Bienen in den Blüten beobachten. Sie können mich wegen der Re exion nicht sehen. Es ist wunderbar, ihnen aus nächster Nähe dabei zuzuschauen, wenn sie sich putzen.“

Kalach als naturverliebten Träumer oder Poeten zu bezeichnen wäre allerdings höchstens die halbe Wahrheit. Mindestens ebenso charakteristisch ist sein lakonischer Pragmatismus. So überraschend es klingen mag: Struktur ist eines der entscheidenden Grundelemente seiner Architektur. „Für mich muss ein Bauwerk wie ein offenes Buch sein“, sagt er. „Man muss es verstehen können.“

Augenscheinlicher als durch sein erstes kommerziell erfolgreiches und Ruhm begründendes Projekt, die „Bib- lioteca Públicá de México José Vasconcelos“, kann dieses Statement nicht belegt werden. Bei dem von außen nicht sonderlich einladenden Gebäude hat Alberto Kalach sein Engagement auf die inneren Werte gelegt. Der gewaltige Baukörper ist gefüllt mit einer grün gestrichenen Eisen- struktur, die sich zur Decke hin verdichtet. Im Inneren präsentiert sich das Haus als ein einziges mit Büchern ge- fülltes Hochregal, auf das manch ein Versandriese neidisch wäre. Mit diesem Geniestreich schafft Kalach zweierlei: einen Ehrfurcht gebietenden Auftritt des gewaltigen Buch- reservoirs und gleichzeitig eine transparente Leichtigkeit, die den Besuchern die Befangenheit sofort wieder nimmt.

"NATUR MACHT ARCHITEKTUR BESSER, LEBENSWERTER UND SANFTER"

Ähnlich stilprägend für sein Werk und das Gesicht der Megametropole ist die bedeutendste Kunstgalerie von Mexiko-Stadt, die nach ihren Gründern „Kurimanzutto“ benannt wurde. Sie wird jedem in Erinnerung bleiben – dank des offenen expressiven hölzernen Dachstuhls im Ausstellungsraum, der aber der Kunst in keiner Sekunde die Schau stiehlt. Hier versammelt Kalach alles, was seine Architektur ausmacht: coole Betonräume, grüne Oasen, erstaunliche Innenhöfe, offene Strukturen, größtmögliche Durchblicke und Übersicht.

Und noch etwas liegt ihm am Herzen: Seine Gebäude sollen Emotionen wecken. Selbst wenn er ein Hochhaus baut. Oder gerade dann. „Die Stadt ist so chaotisch, so anstrengend. Ich möchte, dass meine Häuser dem Bewohner Ruhe, Entspanntheit, Intimität vermitteln.“ In seinem neuesten Werk, dem Wohnturm „Reforma 27“, prominent an der Hauptverkehrsader Avenida de la Reforma gelegen, setzt er das schon im Eingangsbereich um, der eher an ein gemütliches Wohnzimmer erinnert – ein wenig überdimensioniert, zugegebener- maßen. Die einzelnen Apartments sind funktional und doch, dank der geschmackvollen Holzeinbauschränke und dem dahinter integrierten Bad, selbst ohne weitere Einrichtung schon wohnlich. Erst auf dem Dach zeigt sich allerdings, was wirklich in dem Architekten steckt: Auf einer Längsseite lockt ein 25-Meter-Pool unter Palmen, auf der anderen ein Garten mit Bar – und grandiosem Blick über die Stadt.

Aber auch von außen ist das „Reforma 27“ schon aus der Ferne ein Blickfang. Ein einziges strenges Raster aus Beton. Nur von der Seite erkennt man, dass der Turm in der Mitte geteilt ist: Die vordere Hälfte mündet im Pool, die hintere in der Gartenbar. Genauso auffällig: das erdige Rot, mit dem der Neuankömmling an der Reforma die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Der getönte Beton ist sehr mexikanisch und sehr Kalach. Cool und herzlich im selben Moment. Es hat auch mit einem weiteren Aspekt der Arbeit Alberto Kalachs zu tun: „Die Zeit interagiert mit Architektur. Regen und Sonne verändern die natürlichen Farben des Materials. Ich mag diese Form von Patina. Ich möchte sie nur ein bisschen mitbestimmen.“

Da schimmert seine lakonische Verschmitztheit durch. Noch mehr aber bei seiner Antwort auf die Frage nach seinem Traumprojekt: „In Fusswegnähe zu meiner Wohnung.“

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