AW Architekt des Jahres
AW Architekt des Jahres

AW Architekt des Jahres 2020: Architekturbüro Snøhetta

Text Sabine Drey
Datum17.06.2020

Bauwerke wie Naturereignisse

Seit 30 Jahren setzt das Architekturbüro Snøhetta spektakuläre Zeichen in aller Welt: in Oslo, New York, Innsbruck, Alexandria. Für ihre innovativen und integrativen Bauten werden sie AW Architekt des Jahres 2020

Im Gespräch mit AW verrät Gründungspartner Kjetil Thorsen, was die Putzfrau mit den Entwürfen zu tun hat und warum Skizzen eher kontraproduktiv sein können.

In den Konzepten von Snøhetta ist viel von sozialem und öffentlichem Raum die Rede. Wo liegt da der Unterschied? 

Lassen Sie es mich so sagen: Zugänglichkeit für einen sozialen Raum genügt nicht. Unser Opernhausdach in Oslo etwa ist zwar ein öffentlicher Raum, weil es zugänglich ist. Es wird aber erst dadurch sozial, dass man dort nichts kaufen kann. Jeder interpretiert den Ort anders.

Und wie?

Das Dach wird Bühne oder Platz, Meditationsraum oder Tai-Chi-Zentrum mit Aussicht. Die sozialen Aspekte erreichen wir nicht durch ein Konsumangebot, sondern durch das Freigeben eines Platzes, dessen Funktion es ist, Menschen zur Interaktion zu bewegen. Wenn man keine bestimmte Nutzung anbietet, entsteht zumindest die Möglichkeit, sich selbst zu entscheiden. Es ist zum Beispiel nicht gut vorstellbar, dass eine Tai-Chi-Gruppe da oben zwischen Caffè-Latte-Trinkern übt. Es gibt einen riesigen Unterschied zwischen
einer Shopping-Mall und einem Park. 

Das Dach ist also eigentlich ein Park?

Ja. So ein Raum kann sich allerdings auch innerhalb des Gebäudes befinden. Zugänglichkeit ist Voraussetzung, aber auch Offenheit und Transparenz sind wichtig für ein Gefühl der Freiheit. Der Raum darf nicht aufdringlich sein, indem er vorgibt, was du tun sollst. Nehmen wir noch mal das Opernhaus. Das Foyer ist von morgens bis Mitternacht ohne Sicherheitsschleusen zugänglich. Man muss nichts kaufen, aber es gibt ein paar Möbel. Man kann sich hinsetzen, wie auf einem Platz, der temperiert ist. In diesem Fall ging es auch darum, ein neues Publikum zu gewinnen, weil Opernhäuser ja normalerweise eher elitär sind. Wir wollten die Schwellenbereiche so niedrig wie möglich halten. Man muss dort keinen schwarzen Anzug tragen. Du gehst im Foyer spazieren, vielleicht kommst du am Schalter vorbei und kaufst spontan ein Ticket.

So baut man Hemmschwellen ab ...

Genau! Sind die Schwellen niedriger, ist es fürs Publikum leichter einzutreten. Dadurch entsteht Intimität, das Gefühl, die Oper gehöre den Menschen. Wenn ich dieses Glas hier vor mir berühre, ist es mein Glas. Wenn ich es weiter wegstelle, gehört es dem Büro. Genauso ist es in der Architektur. Es muss eine gewisse Intimität vorhanden sein, um den Eindruck von Eigentum zu erzeugen. Architektur und Landschaft werden durch Präpositionen beschrieben. Wie verhält sich dein Körper in Bezug zu einem Objekt? Du bist entweder drinnen oder draußen, davor oder dahinter. Je nach Position wird man natürlich das Objekt oder die Landschaft unterschiedlich wahrnehmen. Es ist ein anderes Gefühl, im Tal zu sein als auf dem Berg.

Und es geht Ihnen darum, möglichst alles einzubinden – quasi durch das Gebäude Berg und Tal zu erfahren?

Es müssen nicht immer alle körperlichen Positionen angeboten werden, aber eine gewisse Vielfalt sollte vorhanden sein, um eine Beziehung zum Gebäude herzustellen. Wenn ich auf das Dach gehen kann, ist das mein Dach. Wenn ich dort sitze, ist das mein Platz. Ein anonymes, unbegeh

Laut Snøhetta ist Architektur gebaute Landschaft. Wie ist das zu verstehen?

Man spricht von Stadt- oder Dachlandschaften, demnach ist Architektur meist gebaute Landschaft. Wir verstehen darunter allerdings etwas, das tektonisch dargestellt wird. Durch die Verschneidung von Architektur und Landschaft wird das Objekt zum Vermittler zwischen den Welten.

"Architektur ist nie das Werk eines Einzelnen"
Kjetil Thorsen

Können Sie das genauer erklären?

Auf dem Gelände des Museums von Lascaux etwa treffen Wald und Landwirtschaft aufeinander, und das Gebäude liegt genau an der Schnittstelle. Dieser Restraum entlang der Straße ist ohnehin schwer nutzbar und eignet sich daher gut als Standort für Architektur, weil so andere, attraktivere Flächen frei bleiben können. An jener Stelle können wir die Grenzen mit und in der Architektur aufheben. Wand, Boden, Dach – diese Normvokabeln eines Hauses sind dann nicht mehr notwendig. Beim Museum von Lascaux umfließt die äußere, reale Landschaft eine innere, künstliche Landschaftsnachbildung. In der Hinsicht funktioniert das Museum ähnlich wie unser Pavillon zur Beobachtung von Rentieren im Dovrefjell-Nationalpark. Das ist eines unserer „Keyless Projects“, es ist immer für Besucher offen. Der Pavillon steht in der Natur und im Innenraum taucht eine gebaute Landschaft in Form einer organischen Holzskulptur auf. Wir spielen mit diesen Maßstabsverschiebungen.

Sie kooperieren eng mit Landschaftsarchitekten. Wieso?

Das wurde aus dem Gedanken geboren, dass die Architektur meist zu selbstbezogen ist. Oft ist das Budget ausgeschöpft, sobald das Gebäude steht. Das Umfeld von Bauten wird daher meist vernachlässigt. Wir finden aber, dass die unmittelbare Umgebung fast genauso wichtig ist wie das Gebäude selbst, und wollen das innerhalb eines Gesamtbudgets umsetzen.

Inwieweit fließen Standortbedingungen in die Planung eines Gebäudes ein?

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Beim Forschungsgebäude Max IV in Lund hat die von uns geplante Landschaft eine direkte Funktion. Damit die Vibrationen, die eine nahe gelegene Autobahn im Boden erzeugt, die Experimente im Labor nicht stören, entwickelten wir ein spezielles Bodenrelief für die umliegenden Wiesen. Das Gelände nimmt exakt die Wellenform der Schwingungen auf und kompensiert die Vibrationswellen. So entsteht Ästhetik, aber auch Inhalt.

"Die wellige Wiese ist wichtiger Teil der Architektur"
Kjetil Thorsen

Sie arbeiten außerdem im Bereich der Forschung.

Ja. Zurzeit entwickeln wir beispielsweise künstliche Riffe für Hummer und Schellfische. Wir wollen für sie einen neuen Lebensraum unter Wasser schaffen. Weiter erkunden wir die Farbinhalte in Zellulose, also in Holz. Den Farbstoff kann man direkt verwenden, sogar trinken, er ist nicht giftig.

Solche Konzepte erfordern ein hohes Maß an Kreativität. Es heißt, bei Snøhetta setzt man gern auf Rollentausch. Wie hat man sich das vorzustellen?

Wir nennen das Transposition. Diese Methode verwenden wir sehr früh im Entwurfsprozess. Bei vielen guten Orchestern tauschen die Musiker beim Üben ihre Instrumente ab und zu aus, damit der Violinist nicht vergisst, was es heißt, Trompete zu spielen. Im Konzert tun sie das natürlich nicht mehr. Übertragen heißt das: Der Ingenieur muss in der Rolle des Musikers nicht mit der ganzen professionellen Verantwortung hinter all seinen Äußerungen stehen und sich womöglich Wochen später noch dafür rechtfertigen. Mich interessiert der Musiker im Ingenieur. Er soll sich unbefangen äußern.

Mit welchem Resultat?

Aussagen wie „Das haben wir schon probiert, das geht nicht“ tauchen oft gar nicht mehr auf.

"Es geht um die Balance von Experiment und Schönheit"
Kjetil Thorsen

Es heißt, Sie reden viel über ein Projekt, bevor Sie zeichnen. 

Die meisten Architekten fangen sofort an zu skizzieren, damit legen sie sich unbewusst bereits fest. Sie verlieben sich schnell in ihre erste Skizze und beeinflussen damit die anderen. Wir dagegen entwickeln „Contextual Concepts“, denn Architektur ist keine Frage des Stils oder der Ästhetik. Es sollte immer ein Gesamtkonzept aus einer prozesshaften Entwicklung innerhalb eines interdisziplinären Teams entstehen. Architektur ist nie das Werk eines Einzelnen. Wir suchen zunächst nach ähnlichen Ideenbildern, die dann allen gemeinsam präsent sind, obwohl sie noch nicht visualisiert wurden.

Doch irgendwann muss einer den Stift in die Hand nehmen.

Es muss aber keine Zeichnung entstehen. Es kann ein Diagramm sein oder ein Modell in unserer Werkstatt. Wir arbeiten grundsätzlich in allen Varianten zwischen digital und analog, das heißt, wir wechseln vom Modell zum Rendering, zur Zeichnung, zum Ausdruck und wieder zurück. Im Entwurf bewegen wir uns ständig zwischen diesen Positionen. Daran nehmen fast alle teil. Ein Leitbild ist der „Singular im Plural“: Aus der Gesamtheit der Individuen entsteht die Gesellschaft, aber auch eine Divergenz, die für die kreativen Prozesse wichtig ist.

Mal ganz konkret – wie entwickelt sich ein Entwurfskonzept im Team?

Da wir die Workshops gemeinsam mit vielen externen und internen Beteiligten durchführen, treffen dabei vielleicht die Putzfrau, der Direktor, der Architekt und der Soziologe aufeinander. Zunächst findet das „Prepping“ statt – Vorbereitung und Analyse von Hintergründen, Geschichte, Klima und anderen Informationen, die allen vorliegen. Mit diesem Wissen im Kopf beginnen wir die Piktogramm-Sitzung, wo Hunderte von Fotos von Menschen, Dingen, Situationen auf dem Tisch liegen. Die Vorauswahl der Bilder treffen wir mithilfe eines Forschungsinstituts in Trondheim. Dann teilen wir uns in Gruppen auf, und jeder wählt negativ oder positiv belegte Bilder aus. Im Anschluss analysieren wir die Assoziationen und kommen zu einem Ergebnis. Den nächsten Schritt nennen wir „Rapid Prototyping“. Dabei erstellen die Gruppen in unserer Werkstatt Modelle, die aus dem Ergebnis hervorgehen. Hieraus bilden wir schließlich einen Konsens.

Klingt recht experimentell ...

Man muss experimentell vorgehen. Klar suchen wir auch nach einer Balance, in der oft der Eindruck von Schönheit liegt. Aber es darf nicht zu viel Gleichgewicht herrschen, es muss auch eine gewisse Unruhe entstehen. Es ist besser, beim Bergsteigen am Abgrund zu stehen als auf der Wiese, weil am Abgrund das Drama stattfindet.

Das Interview erscheint auch in: Snøhetta
Sandra Hofmeister (Hrsg.), Edition Detail, 2020, 200 Seiten, 52,90 Euro

Ausstellung

04.07. – 20.08.2020 

SNØHETTA „ARCTIC NORDIC ALPINE" 

Aedes Architecute Forum, Berlin

AW Architektur & Wohnen präsentiert die Preisträger Snøhetta in den Räumen von Europas bedeutender Architekturgalerie Aedes in Berlin! Die Ausstellung „ARCTIC NORDIC ALPINE" zeigt Architektur unter extremen Bedingungen.

Zum neunten Mal präsentiert AW Architektur & Wohnen den „AW Architekten des Jahres“. Wie 2019 erstmals und nun wieder mit einer mehrwöchigen Ausstellung in den Räumen unseres Partners, des Architekturforums Aedes in Berlin. Damit können Sie die Arbeiten des außergewöhnlichen norwegischen Büros persönlich und hautnah erleben.

Die von den Architekten selbst konzipierte und von AW präsentierte Ausstellung wird vom 4. Juli bis zum 20. August 2020 zu sehen sein. „Arctic Nordic Alpine“ beschäftigt sich mit Bauvorhaben unter klimatisch und topografisch schwierigen Bedingungen.

Gezeigt werden Beispiele für die Kernphilosophie des Büros Snøhetta, Entwürfe an die besonderen Gegebenheiten der jeweiligen Umgebung anzupassen, Bauwerke in die Landschaft zu integrieren, selbst zu Teilen der Landschaft zu werden. Wegweisende Projekte des Studios und Entwürfe von Studenten aus Stuttgart, Innsbruck und Oslo zeigen darüber hinaus, welchen entscheidenden Beitrag Architektur im Dialog mit der Natur hinsichtlich des Klimawandels leisten kann.

Ort: Aedes Architekturforum, Christinenstr. 18-19, 10119 Berlin
Öffnungszeiten: Di-Fr 11-18.30 Uhr, So-Mo 13-17 Uhr und Sa, 4. Juli 2020, 13-17 Uhr