AW Designer des Jahres
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AW Designer des Jahres 2009: Alfredo Häberli

Nur die Kiste mit seinen Matchbox-Autos durfte er mitnehmen, als er mit der Familie von Argentinien in die Schweiz zog. Sie inspirierten ihn zu gestalten. Schnittigen Formen und einem Hang zum Spielerischen blieb er treu: Alfredo Häberli ist der "AW Designer des Jahres 2009".
Datum20.01.2020

Dass Alfredo Häberli ein wirklich gut aussehender Mann ist, muss sogar Designredakteur Jan van Rossem zugeben. Aber das gab natürlich nicht den Ausschlag, ihn zum AW Designer des Jahres 2009 zu wählen. Schon eher das Spielerische, Hintersinnige, das AW-Chefredakteurin Barbara Friedrich in seinen Produkten sieht. Im Gespräch gehen beide den Qualitäten des 42-jährigen, in Argentinien geborenen Schweizers auf den Grund.

JvR: Sein Porzellan-Service „Origo“ für Iitalla ist wohl Alfredo Häberlis bekanntestes Produkt?

BF: Und auch sein erfolgreichstes. Die Royalties für diesen Bestseller – und sicher auch die für die Kerzenleuchterserie „Tris“ – dürften ihm ein schönes regelmäßiges Einkommen sichern.

JvR: Das wird ihn trösten, aber Alfredo ist ziemlich genervt, weil alle nur die hübschen bunten Streifen auf dem Service beachten. Und gar nicht die innere Logik der Serie. Es geht um die Frage:

Verpackung oder Inhalt?

BF: Die Streifen sind Dekoration, Verpackung. Das gewisse Etwas der Gestaltung, der Inhalt der Idee, geht da auf den ersten Blick leicht unter. Schade. Die Idee ist super!

JvR: Man muss sie nur erst mal kapieren. Auf die kleine Erhebung in der Mitte der Teller lassen sich Tassen, Schalen, Eierbecher fixieren. Da rutscht nichts hin und her.

(„Origo“ ist für den kleinen, jungen Haushalt gedacht, wenige Teile, vielfach zu nutzen. Das Geschirr, das auf der Unterseite eine runde Delle und auf den Oberflächen eine passende Beule hat, eignet sich für Sushi und Misosuppe oder Gemüse und Dipp- schale in der Mitte oder ein Frühstücksei und Brötchen daneben.)

JvR: Er hat erzählt, dass Iittala eine Variante produziert ohne diese Beule. Bloß weil einige Kunden behaupten, sie könnten den Teller nicht benutzen, wenn sie was Klassisches essen wollen, Wiener Schnitzel oder so.

BF: Das sind für ihn ganz schöne Zugeständnisse. Eigentlich hatte er das Service nämlich in Weiß entworfen. Wenn er seine Ideen nicht durchsetzen kann, fühlt er sich, glaube ich, manchmal verkannt. Aber mit Streifen verkauft es sich nun mal besser.

Gestalt oder Gestaltung?

JvR: Er selbst ist ja eigentlich bekannter als seine Arbeiten. BF: So ein smarter Typ, so ein Name – kein Wunder, dass er von den Medien beachtet – und auch als Sympathieträger für Werbung eingesetzt wird. Hast Du sicher gesehen in unserem letzten Heft. Häberli für Bucherer.

JvR: Er ist der Ansicht, er habe über die Jahre eigentlich keine eigene Handschrift entwickelt, also in formaler Hinsicht. Findest Du das auch?

BF: Sicher nicht so wie Zaha Hadid oder Ron Arad. Aber die meisten Entwürfe von denen stehen ja ohnehin eher in Galerien und nicht in Wohnungen. Allerdings: Wenn man genau hinschaut, erkennt man den Häberli. Zugegeben, oft erst auf den zweiten Blick.

Ein paar Tage vorher in seinem Studio in Zürich, unweit vom See: 2009 Alfredo Häberli ist bereit fürs Interview. Weißes Hemd, bunter Schal. Seine Zentrale ist ein großer, lang gestreckter Hauptraum, sechs Schreibtische, sechs Mitarbeiter, alle werden ausführlich vorgestellt mit Namen, Aufgabe, Herkunft. Ein netter Chef. Als Grenze zum Durchgang ein langes einfaches Blechregal, gut drei Meter hoch mit akkurat gestapelten Zeitschriften und Objekten, die vielleicht einmal zur Inspiration dienen, Modelle seiner Werke. Gegenüber an der Längswand hängen Bügel, Schnuller, Pillen, Klammern, Schilder, Teile von Produkten anderer Designer, dies und das. Gleichzeitig durcheinander und nebeneinander an- geordnet. Auf seinem Schreibtisch sind flächendeckend Visiten- karten verteilt – Leute, die er demnächst anrufen muss.

Ordnung oder Chaos?

BF: Wohl am ehesten die Sorte chaotische Ordnung, aus der Neues entsteht.
JvR: Sein geordnetes Chaos-Prinzip ist mir sympathisch. Irgendwie hat er tatsächlich etwas Ambivalentes. In Argentinien geboren, lebt in der Schweiz. Er ist leidenschaftlich, lebensfroh und doch ernst und diszipliniert. Er geht gern auf die Piste, ist aber total zuverlässig.

BF: Stimmt. Ich bin angenehm überrascht, mit welcher Präzision und Professionalität er mit seinem Team die Ausstellung für uns managt. Da erinnere ich ein paar chaotische Kandidaten.

JvR: Was macht denn nun einen Häberli-Entwurf aus, neben dem Spielerischen. Mir fallen immer die weichen Ecken seiner Objekte auf ...

BF: ... nicht zu vergessen: die Leichtigkeit seiner Möbel. Sie sind wirklich nie schwer, weder optisch noch tatsächlich. Und auch immer erstaunlich klein dimensioniert.

JvR: Liegt an seiner persönlichen Umgebung. Sagt er. Er hat zu Hause keinen Platz für ein riesiges Sofa.

BF: Dabei ist er offensichtlich gar nicht nur mit seinen eigenen Produkten möbliert.
JvR: Er liebt Klassiker wie Eames und Castiglioni.

BF: Er weiß halt, was schön ist!
JvR: Er selbst ist doch auch was fürs Auge, oder?

BF: Keine Frage: ein schöner Mann! Die Frauen werden es ihm nicht leicht machen ...
JvR: Umso bemerkenswerter, dass er seit 20 Jahren mit seiner Frau Stefanie zusammen ist, eine Studentenliebe. Sie scheinen eine ziemlich nette Familie zu sein, mit dem neun-jährigen Luc und der drei Jahre jüngeren Aline. Eigentlich noch ein Fulltime-Job.

BF: Stefanie ist eine ganz Patente, die hält ihm schon den Rücken frei, so gut es mit ihren eigenen Aufträgen geht. Sie ist ja selbst eine erfolgreiche Grafikerin.

JvR: Weißt Du noch, wie er geantwortet hat, auf die Frage:

Kinder oder Karriere?

BF: Ja. Spontan: „Kinder!“ Und dann nach einer kurzen Denkpause: „Kinder ... äh, ja ... Kinder!!“
JvR: Seine Frau hatte ihn ja kurz vorher verhaftet. Er sollte am nächsten Tag mit dem Sohn in die Schule gehen.

BF: Sie verschont den berühmten Designer nicht mit dem Alltag. Umwerfend bodenständig!
JvR: Und beeindruckend, dass er verzichtet, für Kunden aus Asien und Amerika zu arbeiten, wegen der langen Reisen und Abwesenheit von der Familie. Sehr konsequent!

Konsequent ist er auch seinen Weg gegangen. Mit 13 kam er mit seiner Familie aus Argentinien in die Schweiz. Die erste Zeit war hart. Er musste die Sprache lernen, sich in der Schule durchboxen. Er machte dann erst einmal eine Ausbildung zum Bauzeichner (auch wegen einem Onkel, der Architekt war, und seinem zeichnerischen Talent – was er wohl vom Großvater, einem Maler geerbt hat). Nachdem er den Beruf des Designers entdeckt hatte, nicht zuletzt, weil ihm immer wieder Objekte von Achille Castiglioni aufgefallen waren, ergatterte er einen Platz im Designstudiengang an der Hochschule Zürich. Sein Studium finanzierte er mit der Konzeption von Ausstellungen für das Zürcher Museum für Gestaltung, darunter Schauen über seine Helden Bruno Munari und eben Castiglioni. Als Häberli den Altmeister des italienischen Designs in seinem Mailänder Atelier besuchte, fragte er, ob er nicht bei ihm arbeiten könne. Der riet ihm weise, nach dem Studium gleich ein eigenes Studio aufzumachen. Was Häberli befolgte. Nicht zu seinem Schaden, wie man mittlerweile weiß. Wer ist eigentlich sein größtes Vorbild,

Castiglioni oder Munari?

BF: Da sah er ja lustig aus, als er auf diese Frage schnell antworten sollte – oder?
JvR: Ja, bläst die Backen auf, stülpt die Lippen und lässt die Luft mit einem seufzenden „puuuhhh!“ raus. Es schien, als müsse er sich zwischen Vater und Mutter entscheiden.

BF: Seine Antwort, sehr sophisticated: „Und Enzo Mari.“

Mittlerweile gehört Alfredo Häberli selbst zu den Helden des Designs. Vor zwei Jahren war er der Ehrengast der Avantgarde- Designmesse im belgischen Kortrijk. Das Museum für Gestaltung in Zürich hat ihm letztes Jahr eine große Retrospektive gewidmet. „Ich war unglaublich gerührt. Das Museum, in dem ich schon so viele Ausstellungen für andere gemacht habe, ehrte mich.“

BF: Man merkt, dass Alfredo sich an seinen Helden orientiert. Wie sie geht er von einer Problemstellung aus und durchdenkt jedes Detail, um einen neuen Dreh zu finden.

JvR: Wie bei seinem Kleiderbügel. Da hat er sich gefragt: Warum muss man immer den Mantel oder die Jacke anfassen, wenn man sie aus dem Schrank nimmt. Also hat er ihm einen Extra-Griff verpasst. Schlau!

BF: Der Sinn des Produkts steht bei ihm im Vordergrund. Daran erkennt man ihn als Industriedesigner.
JvR: Das hat er eben von seinem großen Vorbild Castiglioni gelernt: Produkte für Benutzer erdenken, nicht für das eigene Image und die Publicity. Das trifft auch auf seinen neuen Vorhangstoff für Kvadrat zu. Da hat er umgesetzt, was seine Kinder sich für ihre Zimmereinrichtung wünschen. Er hat auf den Vorhang eine Stadt gezeichnet – und nachts, wenn das Licht ausgeschaltet wird, sehen sie die Stadt leuchten und können sich vor dem Einschlafen noch Geschichten ausdenken. Da geht es um eine textile Innovation, einen Druck mit fluoreszierenden Farben.
BF: Er geht sehr liebevoll an seine Entwürfe heran.

Kunst oder Kommerz?

JvR: Er sagt aber klipp und klar: Kunst und Kommerz gehören zusammen. Hört sich an, als ob neben dem Kreativen Geld eine wichtige Rolle für ihn spielt.

BF: Warum auch nicht? Er gesteht ja, dass ein gutes Objekt, das sich nicht verkauft, ihn nicht interessiert. Er ist ja Designer und nicht Maler oder Bildhauer. Dass er da Grenzen zieht, finde ich vor dem Hintergrund, dass viele Designer heutzutage lieber Kleinserien oder gar Unikate für den Kunstmarkt produzieren, eher lobenswert.

JvR: Andererseits: Als Gestalter ist das künstlerische Heran- gehen doch auch wichtig. Zu Kommerz fällt mir nichts ein – hat er schließlich auch gesagt.

BF: Er meint einen Auftrag, nur um Kohle zu machen, ohne Rücksicht auf die designerische Idee und Qualität.

Bilder oder Worte?

JvR: Schon einzigartig, wie er mit seinen Zeichnungen alles festhält. Hunderte von Notizbüchern hat er gefüllt. Bilder sind für ihn ein wichtiges Mittel der Kommunikation, seine Cartoons erzählen Geschichten ohne Worte.

BF: Wie viele seiner Möbel. Manche sehen geradezu aus wie eine Strichzeichnung.
JvR: Er zitiert Paul Klee. Der hat mal gesagt, Zeichnen sei wie mit dem Bleistift spazieren zu gehen.

BF: Deshalb hat er seinen Drahtsessel für Moroso „Take a Line for a Walk“ genannt.
JvR: Was nichts mit Koksen zu tun hat. Kleiner Scherz!

BF: Ich will’s nicht hoffen. Diesen Stuhl, der ja aussieht wie ein Piloten- oder Rennwagensitz, hat er als Strichzeichnung abgeliefert, es sollte eigentlich nur ein Modell für das 50. Jubiläum von Moroso werden. Aber Patrizia Moroso (Anmerkung: die Kreativdirektorin) war begeistert – und ließ es sofort produzieren.

JvR: Da war er selbst überrascht. Manchmal kommt er sehr bescheiden rüber ...

BF: Er will sich eben nicht aufdrängen, lieber entdeckt, erobert werden – ich meine natürlich seine Arbeit. JvR: Die typische Schweizer Bescheidenheit?

BF: Wahrscheinlich auch Stolz, der Argentinier in ihm. JvR: Trotz aller inneren Werte. Optisch ansprechend sind seine Objekte immer.

BF: Sie sollen gefallen. Aber nicht gefällig sein. Sagt er. JvR: Dennoch habe ich den Eindruck, dass er alles perfekt stylt. Auch sich selbst. Hast Du gesehen? Er hat sogar einen Gürtel mit einem „H“ als Schnalle. H wie Häberli.

BF: Jan, so einen habe ich doch auch. Das H ist das Markenzeichen von Hermès. Das Teil gefällt Alfredo wahrscheinlich auch deshalb, weil man das Metall-H abnehmen kann, ohne den Gürtel auszuziehen. Praktisch bei den Flughafenkontrollen!

JvR: Schade. Hätte irgendwie gepasst.
BF: Das ist Alfredo gewöhnt – aber ich glaube, er lebt ganz gut mit der latenten Unterschätzung.

 

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