Design
Design

Selbstfahrende Wohnzimmer für Superhelden

Text Thomas Edelmann
Datum30.09.2021

Marcel Wanders entwirft in Mailand einen Showroom. In München bietet Marc Lichte mit dem Audi grandsphere den Ausblick aufs automatisierte Fahren.

Mitten im exklusiven Modeviertel, in der Luxus-Einkaufsstraße Villa della Spiga, öffnete zur Mailänder Design Week das temporäre Audi City Lab seine Türen. Auch Autohersteller sind bei den Fuorisalone verteilt über die Stadt mit von der Partie. 

Nicht nur nutzen Automobildesigner das Mailänder Designspektakel für ihre Trend-Recherchen. Seit langem beteiligt sich Audi mit eigenen Events, wirkt aber auch als Förderer des Begleitprogramms aus Showrooms und Ausstellungen. Diesmal schuf Marcel Wanders, AW Designer des Jahres 2018, den interaktiven Pop-up-Showroom, genauer das von ihm und Gabriele Chiave geleitete Marcel Wanders studio.

Zwei Autos der vollelektrischen e-tron-Baureihe gab es im Audi City Lab zu erleben, den bereits lieferbaren Audi RS e-tron GT, von dem Audi Designchef Marc Lichte sagt, es sei das schönste Auto, das er bislang gezeichnet hat. 

Der seriennahe Audi A6 e-tron concept gibt bereits einen Ausblick auf die Limousine mit zwei Elektromotoren und 350 kW Leistung, die im kommenden Jahr auf den Markt kommen soll. Für Henrik Wenders, den Leiter der Marke Audi, sind es „herausragende Beispiele für die perfekte Kombination aus hochemotionalem Design, faszinierender Lichttechnik und modernster Technologie.“

Sie inszenierten das Audi City Lab: AW Designer des Jahres Marcel Wanders und Gabriele Chiave sind Kreativdirektoren des Marcel Wanders studio

Kraftvolles Design für Audi

Wer mit Wanders emotionalen und spielerischen Rauminszenierungen vertraut ist, mag vom vergleichsweise sachlichen Audi City Lab zunächst überrascht sein. Wanders erklärt: „In unserem eigenen Kontext können unsere Konversationen mehrdeutig sein. Doch eine Geschichte, die Audi zum Thema hat, muss kraftvoll sein, nicht mehrdeutig. Wir betreten da die Welt der Superhelden.“

Der unmittelbare Eindruck der glänzenden Oberflächen der Autos, ihrer Muskeln und Linienverläufe wird in großen, angewinkelten Spiegelflächen vervielfältigt. „Man sieht die Autos und ihre Details zugleich von mehreren Seiten“, erklärt Chiave. Leuchtende Begrenzungslinien erinnern an die Science-Fiction Filmserie „Tron“, die ihrerseits die Ästhetik von Computerspielen zitiert. 

„Tron“ thematisierte unterschiedliche Realitätsebenen und den scheinbar unmöglichen, jedenfalls riskanten Wechsel zwischen ihnen. Auch Wanders und Chiave führen uns in Mailand zu unterschiedlichen Sphären der Wahrnehmung, Illusion und Magie spielen dabei eine Rolle.

"Enlightening the future"

... lautet das Motto des Audi City Lab. Abgesehen von der Box, in der die Autos sorgsam ins Licht gesetzt sind, ist ein interaktives Lichtszenario zu erleben, ein schmaler zugleich hoher Durchgang, dessen Seitenwände sich durch Berührung verändern. Zitiert wird die Audi-Lichtästhetik, deren Tagfahrlicht künftig bei jedem Fahrzeug vom Nutzer individualisiert werden kann.

Der gesamte Ort dient zugleich als Treffpunkt. Fotos des Mode- und Porträtfotografen Albert Watson waren hier zu sehen und es entstand ein Raum für Diskussionen. Dort verdeutlichte Gabriele Chiave, Creative Director von Marcel Wanders Studio beim Podiumsgespräch mit Fabrizio Longo, dem Italienchef von Audi, sowie Kreativen aus Film (dem Regisseur Gabriele Muccino) und Mode (dem Palm Angels-Gründer Francesco Ragazzi), seinen Designansatz.

Die Welt der Automobilität steht vor grundlegenden Umbrüchen. Wie menschliche Fähigkeiten durch Technologie erweitert werden, ist für Wanders noch immer das zentrale Narrativ. Für ihn folgt daraus ein spielerischer Ansatz, der auf die kindliche Erfahrung zurückgeht, mit einfachen Werkzeugen unsere Möglichkeiten auszuweiten: Jeder Mensch ein Superheld.

Schöner als sein bislang schönstes Auto: Audi Designchef Marc Lichte mit dem grandsphere concept, „ein sehr konkreter Teaser“ einer neuen Oberklasse-Limousine.

Audi steuert auf die Zukunft zu

Wie sich das künftig anfühlen kann, stellte nördlich der Alpen und rund 500 Auto-Kilometer von Mailand entfernt beinahe zeitgleich Audi Designchef Marc Lichte vor. Auf der Messe IAA Mobility präsentierte Audi auf dem Wittelsbacher Platz in München einen Meilenstein des Audi Designs, das Concept Car Audi grandsphere. Als einer der ersten Premiumhersteller hat sich Audi von der Verbrenner-Technologie, den traditionellen Antrieben mit Benzin und Diesel, losgesagt. Bereits ab 2033 will das Unternehmen des Volkswagen Konzerns nur noch rein elektrisch betriebene Fahrzeuge auf den Markt bringen. Und bald sollen die auch vollautomatisiert fahren.

Für Marc Lichte sind der Antriebswechsel, vor allem aber das automatisierte Fahren, Schritte, die das Automobildesign befreien. Bereits heute arbeitet er überwiegend an Elektrofahrzeugen, die in den nächsten Jahren erscheinen. 

Bereits die E-Mobilität allein trage zu  Proportionen bei, weil nun nicht mehr der Motor bestimmend ist, um den herum ein perfektes Design zu gestalten sei. Als „game changer“ bezeichnet Lichte das automatisierte Fahren. Am Beginn jedes neuen Projektes standen bislang stets die Plattform und das technische Meisterwerk, der Verbrennungsmotor. Das Interior Design folgte erst auf die Festlegung der äußeren Form.

"Ich habe mit meinem Team noch nie so viel Freude gehabt, ein Auto zu gestalten," schwärmt Marc Lichte. Bereits zu 80 Prozent zeige das Concept Car Audi grandsphere nun Elemente des künftigen Serienautos, es sei „ein sehr konkreter Teaser – das erste Auto, das wir komplett von innen nach außen erdacht haben." Mehr fahrendes Möbel als konventioneller Autositz ist künftig möglich – ein Wandel von der Business Class hin zur First Class, was sich in Raumverhältnissen, Verstellbarkeit und Komfort ausdrückt.

Möglich wird die neue Freiheit der Designer, weil die hundertprozentige Orientierung an der Fahraufgabe entfällt, die bislang allein und ausschließlich dem Menschen am Steuer oblag. 

Auch in der Materialwahl geht Audi neue Wege: Das komplett vegane Interieur mit fließenden großzügigen Formen zeigt, umfasst von Hainbuchen-Furnier, wie sich Luxus und Premium künftig anfühlen können. So werde das Auto, erklärt der Designer, zum dritten Ort neben Wohn- und Arbeitsraum. Ein mobiler Ort zum Leben.