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Respekt statt Folklore: Viviana Haddad restauriert Gebäudeensemble auf Sizilien

Im Südosten Siziliens liegt Modica, eine der spätbarocken Städte des Val di Noto. Hier hat die Architektin Viviana Haddad ein mehrteiliges Gebäudeensemble neu interpretiert
Datum10.09.2022

Liebe auf den ersten Blick: Viviana Haddad und Modica

Weißgrauer Stein, so weit das Auge reicht. Im Sommer schimmert die Landschaft im Südosten Siziliens in staubigem Weiß, der Winter ist eine Explosion aus saftigem Grün mit gelben Blüten. Am Horizont ahnt man das blaue Meer. In schöner Regelmäßigkeit verstecken sich Ortschaften in tiefen Schluchten, so auch Modica. Am Talboden folgt der „Corso“, die Hauptstraße, dem ehemaligen Flussbett. Links und rechts winden sich schmale Gassen und Treppen den Berg hinauf. Auf der einen Seite wohnte einst die wohlhabende Bevölkerung, umgeben von barocken Prachtbauten und Kirchen, auf der anderen, im ehemaligen Jüdischen Viertel, die ärmeren Menschen. Hier reihen sich kleine Steinhäuser aneinander, 30 bis 50 Quadratmeter pro Familie waren der Standard. Als Viviana Haddad vor rund 20 Jahren mit ihrem Mann nach Modica kam, war dieser Stadtteil fast vollständig dem Verfall überlassen. Für eine Architektin ein faszinierendes Szenarium. „Es war Liebe auf den ersten Blick“, sagt Haddad, „man hatte den Eindruck, in einem Film von Pasolini oder Fellini gelandet zu sein.“ Sie kehrte Mailand den Rücken und begann ihr erstes Umbauprojekt: das Boutique-Hotel Talia.

Viviana Haddad und der Respekt für das Traditionelle

Immer wieder kamen Gäste, die beschlossen, zu bleiben. So auch ein Paar aus London. 2014 kauften sie das erste Haus, einen dreistöckigen Steinbau. Wenig später erstanden sie zwei danebenliegende Ruinen. Die Häuserzeile ist über zwei Stockwerke in den Hang hineingebaut, nur das Obergeschoss ist ein freistehender Bau. Anbauten und Erweiterungen sind in Modica laut Denkmalschutz verboten, Fassaden, Volumen und Öffnungen müssen getreu dem Original erhalten bleiben – zumindest der Teil, der vom Tal aus sichtbar ist. Wer mehr Raum braucht, muss nebeneinanderstehende Gebäude zu einem Ganzen zusammenfügen. Der Kauf einer Ruine ohne Dach sei ein Glückstreffer, erklärt die Architektin. So ist der ehemalige Innenbereich eines verfallenen Hauses die einzige Möglichkeit, einen Patio zu schaffen, nicht mehr existierende Dächer dürfen in Terrassen umgebaut werden. Grundlegend bei einem Umbau ist für Haddad der Respekt für die traditionelle Bauweise und die Integration der neuen Elemente in den historischen Kontext. Das gilt auch für das Haus im englischen Besitz, wo der Eingang im Obergeschoss liegt. Durch die originale Haustür betritt man den Wohnbereich, der ursprünglich in drei Zimmer unterteilt war.

Verschachtelter Aufbau

Der Raum entwickelt sich heute entlang der Längsachse, Küchenzeile und Couch stehen an den Seitenwänden, eine große Glastür führt auf die Terrasse und umrahmt den Blick auf die Landschaft. Die Verbindung zwischen innen und außen ist dynamisch, jede Öffnung Teil einer sorgfältig geplanten Sequenz von Ansichten der barocken Altstadt. Dass einige Fenster versetzt, andere ganz geschlossen wurden, ist von außen nicht zu erkennen. Der Innenbereich bietet so jedenfalls mehr Platz für Neues. Speziell für dieses Haus entworfen wurden unter anderem die Küchenzeile mit einer Arbeitsplatte aus brüniertem Stahl und der Esstisch, ein Unterbau aus den Siebzigerjahren mit einer von Haddad entworfenen Tischplatte aus blauem Glas. Für sie ist es wichtig, eine Atmosphäre zu schaffen, die genau diesen Teil Siziliens widerspiegelt. Hierbei ist das Aufarbeiten von alten Baumaterialien nicht nur nachhaltig, sondern hilfreich. Der Boden des Wohnbereiches ist aus Pietra Pece, einem braunschwarzen Kalkstein, den es nur im Südosten Siziliens gibt, das Eisengeländer der Terrasse stammt von einem alten Balkon.

Der Außenbereich entwickelt sich über zwei Ebenen: der Patio im Zwischengeschoss und die Terrasse im ersten Stock, genau in der Mitte des Ensembles, wo zuvor eine der zwei Ruinen stand. Auf der oberen Ebene befinden sich eine maßgefertigte Sitzecke, eine in den Boden eingelassene Wanne und ein Deck aus Holz mit Blick auf die Altstadt. Die untere Ebene fungiert als Außenbereich des Hauptschlafzimmers, welches über eine Treppe mit dem darüberliegenden Wohnbereich verbunden ist. Diese Zwischenebene des Hauses macht klar, wie sorgfältig die einzelnen Volumen ineinander verschachtelt sind. Die Terrasse des Wohnbereiches bildet die Decke des Schlafzimmers, der Patio liegt im Schatten des Holzdecks, ein Alkoven befindet sich in einem Gewölbe unterhalb der in die obere Terrasse eingelassenen Wanne. Eine Außendusche mit Blick über die Dächer ist direkt mit dem Schlafzimmer verbunden.

Im Bauch des Berges

Mit ihrem Faible für Materialien verschiedenster Art hat Viviana Haddad viele alte Handbücher durchforstet und historische Bautechniken weiterentwickelt. Wie etwa im Untergeschoss des Hauses, wo sie hinter einer gemauerten Trennwand zwei in den Berg gebaute Höhlen entdeckte, die bis zum Rand mit Bauschutt gefüllt waren. Um dort zwei Schlafzimmer einzurichten, musste die Feuchtigkeit mittels hochmoderner Materialien gebannt werden, die heute unter einer Schicht aus traditionellem Kalksteinputz verborgen liegen. Im Hinblick auf Nachhaltigkeit sind die Schlafräume jedenfalls ein Glücksfall: Selbst bei Außentemperaturen von 40 Grad wird es hier nie wärmer als 24 Grad.

In Sizilien vergeht die Zeit seit jeher etwas langsamer als anderswo

Der Respekt für die historische Substanz, das Entwickeln von Alternativen zum Stahlbeton in der Erdbebensicherung, die Nutzung der aufgearbeiteten Böden und Steine sowie die Einrichtung in Absprache mit den Bewohnern hatten eine ganz konkrete Folge: Die Renovierung dauerte rund drei Jahre. Aber in Sizilien vergeht die Zeit seit jeher etwas langsamer als anderswo.