AW Architekt des Jahres
AW Architekt des Jahres

AW Architekt des Jahres 2022: Tatiana Bilbao Estudio

Sie gestaltet nicht nur Bauten, sondern erfindet neue Lebensräume. Nachhaltig und sozial, ungewöhnlich und visionär. Das hat unsere Preisträgerin, die Mexikanerin Tatiana Bilbao, zu einem großen Vorbild im Wandlungsprozess der Architekturwelt gemacht
Text Jeanette Kunsmann
Datum02.05.2022
©Ana Hop
Architektur kennt viele Werkzeuge. Im Studio von Tatiana Bilbao werden Ideen mittels Collagen und Modellen zusammen erarbeitet, getestet und kommuniziert.

Tatiana Bilbao strahlt. Die Architektin hat gute Laune. Gerade erst aus Basel angereist und in Berlin angekommen, um in der Hauptstadt ihre nächste Ausstellung vorzubereiten, wird sie gleich am nächsten Tag in den brandenburgischen Landkreis Oder-Spree weiterfahren. Sie möchte dort mit den Mönchen aus dem Kloster Neuzelle einen Workshop abhalten. Das Zisterzienserkloster plant in Neuzelle einen Neubau für die junge Glaubensgemeinschaft, der vom Büro Tatiana Bilbao Estudio in Zusammenarbeit mit DOGMA und dem spanischen Studio MAIO Architects entwickelt wird. Danach geht es für die Architektin weiter nach Barcelona zur Jurysitzung des EUMiesAward, bevor sie wieder zurück nach Mexiko-Stadt in ihr Studio fliegt. Bilbao liebt es, unterwegs zu sein.

Atelier als Thinktank: Gezeichnet wird im Open Space. Die 60 Architektinnen und Architekten arbeiten in zwei Teams parallel an den Projekten.

Aktuell arbeitet das Tatiana Bilbao Estudio an Projekten in den USA, in Deutschland, Frankreich und Mexiko. Und so verschieden der Kontext jeweils ist, so individuell ist auch der Entwurf. Dass ihr Werk und Wirken dennoch einem roten Faden folgen, liegt an dem übergeordneten Anspruch von Tatiana Bilbao, die weder ein übergroßes Ego noch das typische Form-follows-function-Mantra kennt. Ihr geht es vor allem um die soziale Wirkung von Architektur und eine Rückbesinnung auf die Natur.

„Wir haben Jahrhunderte damit verbracht, dass wir uns nicht mehr als Teil der Natur verstehen und uns mit Gebäuden von der Natur isoliert, um uns zu schützen. Aber sie erlauben uns nicht mehr, den Kreislauf zu verstehen, zu dem wir gehören“, sagt die Architektin. „Heute überlegen wir, wie wir Natur und Mensch verbinden können. Dabei sind wir Bestandteil dieses natürlichen Systems.“ Tatiana Bilbao teilt die Welt nicht in Natur und Menschen: „Wir sind Natur.“ Diese Philosophie nimmt, übersetzt in gebaute Ideen, immer wieder andere Formen an. Zum Beispiel in eine abstrakt-offene Kapelle aus vier 14 Meter hohen, weißen Betonwänden, die auf einer Anhöhe den Beginn des Pilgerwegs „Ruta del Peregrino“ in Westmexiko markiert.

Bauen bedeutet Verantwortung

Auch andere Projekte bezeugen diese offene Arbeitsweise. In Culiacán baute das Architekturstudio auf dem Campus des Monterrey Institute of Technology 2011 eine verglaste Kubusstruktur für das Institut Bioinnova, bei der sich die verschiedenen Ebenen stapeln, als wäre es ein wachsender Baum. Das wirkt von außen zunächst unnahbar, entwickelt durch die versetzte Staffelung spannungsvoller Raumqualitäten aus Terrassen und Überhängen. Für den Botanischen Garten in Culiacán ist es Bilbaos Studio gelungen, dass sich alle neuen Gebäude der Natur unterordnen und dabei ein neues Spannungsverhältnis zwischen Landschaft und Kunst entsteht. 

Parallel arbeitete das Team von 2010 bis 2013 an einem Masterplan für eine neue Wohnsiedlung für 586 Familien der durch Hochwasser zerstörten Stadt Angangueo. Der aus der Not errichtete Vorort entwickelt sich zu einem Organismus, in dem die Bewohner nicht nur wohnen und arbeiten, sondern auch leben und sich erholen. Gebaut wurde mit lokalen Baustoffen. Die Vielfalt des Lebens spiegelt sich in allen Projekten vom Tatiana Bilbao Estudio wider. Das macht die in Mexiko-Stadt ansässige urbane Denkfabrik zu einem Vorbild für junge Architekten auf der ganzen Welt

Für Tatiana Bilbao sind Qualität und Schönheit keine Budgetfrage. Die 1972 in Mexiko geborene Architektin plädiert für eine Definition des Minimums als Maximum. Mit ihrer Vorliebe für Kollaborationen etablierte sie ein neues Bauverständnis jenseits der Stararchitektur.

Wie die Architektur von Tatiana Bilbao gebaut aussieht, werden in Deutschland demnächst zwei Projekte zeigen, die gerade von der Planungsphase in die Realisierung übergehen. In Nordhessen entsteht ein Haus als Organismus im Rahmen des Gemeinschaftsprojekts „Ways of Life“. In Brandenburg stellt sich das Team der Herausforderung, wie ein Kloster für eine Religionsgemeinschaft als eine zeitgemäße kollektive Lebensform im 21. Jahrhundert aussehen könnte. 
 

Architektur dient für Tatiana Bilbao nicht dem gestaltenden und schöpfenden Ego, sondern den Menschen. Das hat für sie eine existenzielle Bedeutung. „Bauen bedeutet für mich große Verantwortung“, betont die AW-Architektin des Jahres 2022. „Erst wenn die Architektur ihre Verantwortung für die Gestaltung des Lebens begreift und versteht, werden sich die Dinge ändern.“ Davon ist Tatiana Bilbao zutiefst überzeugt.

Lesen Sie das gesamte Porträt über Tatiana Bilbao in der AW Architektur & Wohnen Ausgabe 03/22
 

Und nicht verpassen: 

Preisverleihung AW Architekt des Jahres 2022
und Ausstellungseröffnung TATIANA BILBAO ESTUDIO - "EN COMÚN"
am 13. Mai 2022 ab 17.30 Uhr hier im LiveStream. 

Die Ausstellung läuft vom 14.05. bis zum 29.06.2022
in der Architekturgalerie Aedes in Berlin.

Mehr zur Ausstellung erfahren Sie hier.

Preisverleihung und  Austellung werden großzügig unterstützt durch: 

CEMEX, NEXT125, LAUFEN, PANORAMAH, LONGINES, QLOCKTWO und V-ZUG