AW Designer des Jahres
AW Designer des Jahres

AW Designer des Jahres 2021: Piero Lissoni

Er gilt als der große gestalterische Generalist der Gegenwart: Piero Lissoni gibt bei vielen Top-Möbelmarken den Ton an und prägt damit das Bild des italienischen Designs. Er ist der AW Designer des Jahres 2021.
Text Heike Blümner
Datum08.01.2021

Die Zeiten sind nicht nach Piero Lissonis Geschmack. „Ich fühle mich wie ein Gefangener“, klagt er und blickt schelmisch durch seine runde, schwarze Brille vom Bildschirm auf. Nun gibt es mit Sicherheit Schlimmeres als wie er in einem Haus in der Nähe des toskanischen Küstenortes Forte dei Marmi oder seinem Atelier in Mailand festzustecken. 

Aber der italienische Architekt und Designer, der es gewohnt ist, Projekte in der ganzen Welt persönlich zu dirigieren, fühlt sich ausgebremst: „Ich will wieder in den Stress hineinspringen, freue mich sogar auf die sinnlosen Stunden in der Flughafenlounge oder darauf, bei der Einreise mit dem Pass in der Schlange zu stehen.“ 

An Aufträgen mangelt es auch zu Corona-Zeiten nicht: Architekturprojekte in Genf, China, Budapest und Süditalien stehen an, beim Produktdesign sei man auf absehbare Zeit ausgebucht. Aber der virtuelle Kontakt entspreche nun wirklich nicht seinem Typ: „Es ist wie Theater. Ich brauche einfach die Präsenz meines Gegenübers.“

"Ich habe mir die Begeisterungsfähigkeit eines Kindes bewahrt."
Piero Lissoni

Um Lissoni näherzukommen, bieten sich mannigfaltige Möglichkeiten. Dieser Mann ist der große gestalterische Generalist der Gegenwart. Schon jetzt birgt sein Werksverzeichnis überbordendes Material für zukünftige Generationen von Designhistorikern und Kuratoren. Lissoni&Partners, so der Name seiner Firma, steht auf mehreren Säulen. 

Da wären zunächst die architektonischen Projekte: Private Villen, Firmensitze, Hotels in der Gesamt- und Teilkonzeption, Innenraumgestaltung für Gastronomie, Showrooms und private Wohnsitze – auch eine eigene Grafikabteilung unterhält man in Mailand. 

Besonders öffentlichkeitswirksam sind jedoch Lissonis acht Posten als Art-Direktor und die unzähligen Kollaborationen im Designbereich: Über mehr als 30 Jahre hinweg hat der 64-Jährige ein Portfolio aufgebaut, bei dem die inhaltlichen Schwerpunkte sich einerseits voneinander abgrenzen und sich andererseits zu einem Marken-Gesamtbild fügen.

Lissoni entschied sich bei seinem Haus für einen Neubau aus leichtem Stahlbeton – und für einen Pool.

Multitasker mit Multiaufgaben

Sein neuester Coup ist die Übernahme der kreativen Führung beim Möbelunternehmen B&B Italia. Weiterhin arbeitet er für

  • den Sofahersteller Living Divani,
  • den Luxusküchenfabrikant Boffi,
  • den Einrichtungsspezialisten Lema,
  • den Einbauschrank- und Regalexperten Porro, 
  • die Glastüren- und Trennwand-Firma Lualdi,
  • die hoch spezialisierte Holzmanufaktur Alpi
  • und den Jachtbauer Sanlorenzo.

Für sie alle entwirft er nicht nur schöne Dinge, sondern oft auch ihren Katalog, ihren Messestand oder ihren Firmensitz.

Gleichzeitig hat der Multitasker Einrichtungs- und Gebrauchsgegenstände für so ziemlich jedes namhafte Unternehmen der Branche erschaffen. Die Liste der Kollaborationen ist so lang wie die der Produkte: Ob Sofas, Tische, Leuchten, Armaturen oder Kaffeetassen – wenn Lissoni loslegt, wird aufgeräumt, die Essenz eines Objektes zum Vorschein gebracht und ihm gleichzeitig eine auffällig elegante Kontur verpasst.

„Es ist riskant, elegant zu sein“, sagt ihr Schöpfer. Der Satz lässt sich als Motto über sein bisheriges Gesamtwerk spannen. Denn der hässliche Nachbar der Eleganz ist die kalkulierte Gefälligkeit. Und die Gefahr des allumspannenden Signets ist die der Beliebigkeit. Beides hat Lissoni stets erfolgreich gemieden. Wie genau? „Man muss gleichzeitig sehr ruhig und ein bisschen schizophren sein“, sagt er und lacht.

Das wäre wohl die kokette Kurzformel. Tatsächlich handelt es sich um die Fähigkeit, die Dinge stets vom Standpunkt eines feinfühligen Markenverständnisses zu betrachten – nicht nur in Bezug auf das Design, sondern auch auf die jeweilige Firmenhistorie und den Produktionskontext: „Ohne das Team und das Feedback aus der Manufaktur passiert gar nichts. Das ist keine Zutat, sondern die Voraussetzung.“ 

Und wenn dieses Fundament steht, kann der schöpferisch-interpretierende Prozess seinen Lauf nehmen. Gerne wird dann Materialien eine neue Bestimmung zugewiesen, etwa bei dem ultraleichten, aber robusten Stuhl „Piuma“ von Kartell. Dessen Korpus entstand in Spritzguss, aus Material aus dem Hubschrauberbau, das speziell für diesen Zweck weiterentwickelt wurde. 

Auch Humor findet sich bei Lissoni, etwa bei „Eda-Mame“ von B&B Italia, einer Chaiselongue, die subtil an die beliebte japanische Bohne erinnert.

Ideal für eine Auszeit: Piero Lissonis Haus in der Maremma. Der gläserne Schrank "Ex Libris" (Porro) fungiert als Raumteiler zwischen Wohnzimmer und Küche.

Die Komplexität der Einfachheit

Diese Art schwingender Formensprache hat es in sich: „Einfach zu sein ist sehr kompliziert. Die Einfachheit ist nur die Seite, die der Öffentlichkeit zugewandt ist, die Kehrseite ist ein unglaubliches Level an Komplexität.“ Lissoni entwirft „mit vielen Komplikationen und Details“. Und dann heißt es: „Weg, weg und weg damit.“ 

Dabei gehe es um die Struktur, nicht um die Ästhetik. Dass am Ende dabei Werke wie die monolithischen Boffi-Küchen, Sofas wie „Extrasoft“ von Living Divani oder „Matic“ von Knoll herauskommen, ist das Faszinierende der Entwürfe – auch in der Architektur. Erklären kann Lissoni es selbst nicht: „Mein Glück, dass ich das hinkriege.“ Oder auch: Talent.

Das fiel schon früh auf einen nährstoffreichen Boden. Geboren wurde er 1956 in Seregno. Sein Vater war Restaurateur für Antiquitäten und Spezialist für historische Stoffe. Sohn Piero fiel schon als Kind in den Zaubertrank: „Ich lernte Ästhetik, Stil, Kunstgeschichte und über allem stand der Respekt für die Patina.“ In der Schule zeichnete und skizzierte er ständig, studierte dann am renommierten Mailänder Polytechnikum Architektur.

Kreative Beziehungen

1986 hatte er bereits Stationen bei Aldo Rossi, Ettore Sottsass, Daniel Libeskind und Cassina hinter sich – es war Zeit für die Selbstständigkeit „mit null Kunden“ sowie „der Hälfte des Küchentisches und einem Fax“ als Büro. Das änderte sich rasch. Nach kleineren Renovierungsaufträgen kam die erste Anfrage, die sich zu einer dauerhaften Verbindung auswachsen sollte: Boffi wollte sich entstauben und verlangte bei Lissoni einen Katalog. Der lieferte „schweizerisch-deutsch inspiriert, superclean, supercool“. Im Zuge dessen überarbeitete er Schritt für Schritt alle Auftritte des Unternehmens. 

1989 entwarf er seine erste Küche mit dem Namen „Esprit“, zehn Jahre später baute er für das Unternehmen den Hauptsitz in Lentate sul Seveso. Sein Name ist mit Boffi verwoben, ohne dass einer von beiden seine Eigenständigkeit je aufgegeben hätte. Wie in einer idealen Ehe, nur dass Lissoni in der Lage ist, viele derartig fruchtbare Langzeitbeziehungen parallel zu führen.

"In meinem ganzen Leben habe ich noch nie etwas entworfen, wo ich nur die Proportionen geändert habe"
Piero Lissoni

Es ist sein schöpferischer Idealzustand. Seine frühen Vorbilder seien unter anderem Unternehmen wie Interlübke oder Braun gewesen – mit ihrem „unglaublichen Level an Kontrolle über das Design, die Technik, die Funktionalität und Präsentation bis hin zur Grafik“. 

Wichtig ist demnach nicht die Arbeit als eine Aneinanderreihung von Werken, sondern der Prozess und die Struktur dahinter. Einiges infrage zu stellen, Grenzen zu überwinden, und gleichzeitig der eigenen Sprache stets etwas hinzuzufügen: „In meinem ganzen Leben habe ich noch nie etwas entworfen, wo ich nur die Proportionen geändert habe. Jedes Projekt, das ich gemacht habe, ob Tisch, Stuhl, Lampe, Küche oder Kaffeetasse, alles fängt mit einem großen Fragezeichen an“, so Lissoni. Und – so ließe sich hinzufügen – endet stets mit einem Ausrufungszeichen. 

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