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Intensiver Tagtraum: Annalisa Mauri vereint Jugendstil und Moderne in Rom

Ein Universum aus Licht, Gefühl und Farbe: Mit Le Corbusiers Polychromie hat die Architektin Annalisa Mauri ein Jugendstil-Apartment in Rom in einen Kraftraum für Kunst und Klassik verwandelt.
Text Tina Schneider-Rading
Datum20.01.2023

Wer die Wohnung in der Jugendstilvilla an der Via Dandolo in Roms lebhaftem Szeneviertel Trastevere zum ersten Mal betritt, verfällt ihr mit dem ersten Atemzug. Draußen hat die Augustsonne die Luft aufgeheizt, die Straßen und Fassaden gleißend bestrahlt. Drinnen brauchen die Augen einen Moment, bis sie sich an die kühle Tiefe gewöhnen, die Bewohner und Besucher hier umhüllt. Das dunkle Coelinblau der Decken und Wände sowie das matte Karminrot beruhigen und besänftigen die Sinne schon im Entree wie ein umhüllender Mantel. Die Pupillen weiten sich, unwillkürlich atmet man hörbar durch. "So geht es allen!", sagt Annalisa Mauri mit einem Lächeln. Die Architektin, die am renommierten Politecnico di Milano studiert hat, erinnert sich selbst noch an ihren ersten Besuch im Frühjahr 2019. Sie besichtigte die damals noch weiß getünchte Wohnung mit ihrer Freundin, der heutigen Eigentümerin Chiara Moro: "Wir waren beide sehr aufgeregt. Und ich bekam eine Gänsehaut von so viel Schönheit."

Ein prominentes Römer Intellektuellen-Paar hatte auf den 250 Quadratmetern jahrelang herrschaftlich logiert. "Die Räume, das Licht, die Energie und sogar die Luft, die wir atmeten – alles hier war eine Hymne an die Schönheit", erinnert sich Chiara Moro. Bei ihrer Suche nach einem neuen Apartment für sich, Tochter Allegra und ihren Lebenspartner Federico Massimiliano Mozzano konnte die Wahl nur auf ein Gebäude mit Geschichte und besonderem Flair fallen. Die Villa "Villino Sabbatini" von 1925 trägt eine ockerfarbene Fassade mit Jugendstil-Gemälden und emblematischen, neobarocken Verzierungen, sie ist ein architektonisches Schmuckstück. Das Apartment sollte auf seinen zwei Etagen fortan auch den Freigeist und die Kreativität seiner neuen Bewohner verkörpern, natürlich in Farbe.

Annalisa Mauris Inspirationsquelle: Le Corbusier

Annalisa Mauri besann sich auf die Philosophie ihres größten Idols: Le Corbusier. Der Schweizer nutzte Farbe als integralen Bestandteil seiner architektonischen Konzepte, er erkannte ihre räumlichen Eigenschaften und ihr Talent, Emotionen zu schüren: "Farbe ist in der Architektur ein ebenso kräftiges Mittel wie der Grundriss und der Schnitt", folgerte er. So verlieh er Räumen mit vertrauten Farbstimmungen mehr Identität als es reinweiße Architektur je gekonnt hätte. Mit seiner Kollektion "Polychromie Architecturale" von 1931 (und in einer erweiterten Version von 1959) schuf er ein System aus 63 harmonisch aufeinander abgestimmten Farbtönen, das bis heute nichts von seiner Überzeugungskraft verloren hat.

Das Credo von Le Corbusier: Die Klaviatur der Töne soll den natürlichen, menschlichen Empfindungen entsprechen. Die Architektin nutzte ihren von Le Corbusier proklamierten "visuell gesunden Menschenverstand" und erklärte Vielfarbigkeit zu einem Leitmotiv ihres Renovierungskonzepts: "Die dramatischen Farbtöne waren eine ganz bewusste Entscheidung. Damit zeige ich, wie Jugendstil und Moderne vereint werden können."

Kunstvolle Kupferrohre im Jugendstil-Apartment als Statement

Annalisa Mauri setzte neben der Farbe ein mutiges Statement ein, das die Ausstrahlung des Apartments zusätzlich unterstreicht: Durch sämtliche Räume führen gebürstete Kupferrohre. Sie verwandeln sich in den einzelnen Zimmer in ein Beleuchtungselement, einen Handlauf, ein Bücherregal oder eine Halterung für die Kunstwerke des Paares: "Das Element verbindet die Räume auf dekorative und zugleich funktionale Art."Die Rohre wandern wie schimmernde Begleiter über Wände und Decken, nehmen unverhoffte Abzweigungen, spielen mit den Linien der Architektur: "Darauf bin ich besonders stolz: Die Elemente antworten auf die Räumgrößen, sie geben dem Auge Halt."

"Durch die dramatischen Farbtöne zeige ich, wie Jugendstil und Moderne vereint werden."
Annalisa Mauri

Der Wohnsalon gehört zu Mauris Lieblingsräumen: eine sonnengeküsste Lichtung, in der Architektur, Kunst und Minimalismus einander harmonisch umspielen. "Die senffarbenen Wände und Decken haben es mir besonders angetan", sagt sie, "es ist so ein intimer und behaglicher Raum, der je nach Tageszeit ein sehr gemütliches Licht ausstrahlt." Auch das zweite Wohnzimmer pocht mit lichtgrauen Wänden und großformatiger Kunst auf Klarheit, einzelne Vintage-Solitäre in warmen Tönen nehmen dem Raum die Härte und setzen persönliche Akzente.

Erfrischender Perspektivwechsel von Annalisa Mauri

Der aufgearbeitete, antike Zementboden fasst alle Räume zusammen, stellenweise wird er aufgelockert durch angedeutete ornamentale Fliesen-Teppiche. Annalisa Mauri: „Mein Herz hängt an den recycelten Zementfliesen.“ Diese erinnern an die Historie des Gebäudes und schaffen zugleich eine zeitgemäße Verspieltheit, die dem Mantel aus Farben und Kunst die Schwere nimmt: „Die Schönheit von solchen Kleinigkeiten wird viel zu oft unterschätzt.“ Mit diesem Detailreichtum entstand ein ausbalanciertes Ganzes, dem die Kunstwerke und Möbel erfrischende neue Blickwinkel schenken. „Die erste Idee ist für mich immer der schönste Moment eines neuen Projekts“, sagt Annalisa Mauri, während sie nach dem Spaziergang durchs Apartment zurück zur Wohnungstür führt: „Und bei der Arbeit liebe ich es, wie sich meine Ideen dann in Zeichen und Linien verwandeln.“

Die Architektin respektiert Räume, als seien sie Persönlichkeiten. Und sie hört genau hin, schenkt dem architektonischen Angebot ebenso viel Beachtung wie den Kunden-Bedürfnissen. Hier hat sie beides perfekt vereint: „Ich konnte auf den Geschmack von Chiara und Federico eingehen, und ich habe das Gebäude mit seiner starken historischen Dichte respektiert.“ Die Bewohner fühlen sich verstanden – und die Villa auch. Ein Glücksfall, schießt es einen durch den Kopf, während man sich auf dem grell beschienenen Gehweg die Sonnenbrille vor die vergrößerten Pupillen schiebt.