Hoch im Stadtwald: Der Bosco Verticale in Mailand

An der Fassade des "Bosco Verticale" in Mailand wachsen Bäume in den Himmel. Marilena Sobacchis Apartment interpretiert die Waldidee im Inneren.

Im Zentrum von Mailand, nördlich des Bahnhofs Porta Garibaldi, ist im letzten Jahrzehnt der neue Stadtteil Porta Nuova in die Höhe geschossen. Wo einst eine Textilfabrik stand, gruppieren sich heute Riesen aus Stahl, Beton und Glas um einen weitläufigen Park, die sogenannte Biblioteca degli Alberi. Das ambitionierte Stadterneuerungsprojekt hat von Anfang an auf Nachhaltigkeit gesetzt, etwa mit Solarpaneelen im öffentlichen Raum, systematischer Begrünung, optimaler Anbindung an den Nahverkehr und einem ausgewogenen Mix aus Wohn- und Geschäftsräumen.

Die Umsetzung war das Werk verschiedener international bekannter Architekten und ein Megaprojekt mit viel Freiraum zum Experimentieren. So entstand im Sektor Isola der "Bosco Verticale", der vertikale Wald: Es sind zwei 80 und 112 Meter hohe Wohntürme, vor deren Fassaden 800 Bäume, 15.000 Staudengewächse und 5.000 Sträucher wachsen. Für den Mailänder Architekten Stefano Boeri ist es "ein Haus für Bäume, das auch Menschen und Vögel beherbergt".

Offenes Wohnen im Bosco Verticale

In einem der oberen Stockwerke des kleineren Turms wohnt Marilena Sobacchi, die seit 2016 für das Pressebüro der Mailänder Möbelmesse Salone del Mobile arbeitet, mit ihrem Mann und Sohn. Auf der Suche nach einer Wohnung in der Mailänder Innenstadt kam sie eher zufällig in den "Bosco Verticale". Die Musterwohnung, die man ihr ursprünglich zeigte, entsprach nicht gerade ihren Vorstellungen: Die Räume waren recht klein geschnitten, der Wald vor dem Fenster wirkte eher wie eine Kulisse denn als Teil des Wohnraums.

"Interior Design ist für mich etwas total Kreatives, etwa so, als ob ich ein Bild malen würde. Was wirklich zählt, ist der Prozess, nicht das Ergebnis."
Valentina Moretti

So bat sie die Architektin Valentina Moretti um Rat und gemeinsam besichtigten sie eine Wohnung eine Etage höher, die sich noch im Rohbau befand. Dort eröffnete sich eine andere Welt: große, von einer fast durchgängigen Fensterfront gesäumte Volumen ohne Trennwände, hohe Betondecken, offen liegende Installationen, viel Licht und ein Blick durch die Bäume auf die Alpen bis hin zum Monte Rosa. Ein Panorama, das Marilena Sobacchi bislang in all ihren Wohnungen begleitet hat.

Bosco Verticale: Leben im Wald 

Mit dem Kauf der Wohnung begann eine gemeinschaftliche Reise durch alle Phasen des Umbaus und Einrichtens. Valentina Moretti schätzt eine derart eng verzahnte Arbeitsweise. Nach dem Studium an der Schweizer Accademia di Architettura di Mendrisio arbeitete die Architektin erst bei Mario Botta in der Schweiz und dann bei Richard Meier in New York. Zurück in Italien gründete sie 2010 ihr eigenes Studio MORE, mit dem sie nicht nur luxuriöse Fertighäuser baut, sondern auch Interieurprojekte für Hotels, öffentliche Einrichtungen und Privatwohnungen entwickelt. Bis heute schätzt sie die unverkennbare Formensprache von Botta und die Suche nach möglichst viel Licht bei Meier.

Den Leitfaden ihrer Arbeit hat die Architektin jedoch von ihrem Schweizer Lehrmeister Valerio Olgiati übernommen. Dieser folge dem Konzept, dass man eine starke grundlegende Idee brauche, aus der sich dann sämtliche folgenden Entscheidungen ergeben würden, egal ob es sich um strukturelle Elemente oder um Details wie Türklinken handele, erklärt Moretti. Diesem Ansatz ist die Architektin auch beim Umbau des Mailänder Apartments gefolgt – basierend auf Stefano Boeris Vision vom Leben im Wald.

Bosco Verticale: Ein fließender Raum 

Die Böden in Walnussholz, die mächtige Kücheninsel aus grünem Marmor, die dahinter eingebaute schwarze Schrankwand und der große Block aus rotem Marmor im Eingangsbereich kreieren mit ihren dunklen Farben eine Stimmung wie in einem Gehölz. Es ist ein bewusster Kontrast zum Grün und dem Licht im Außenbereich. "Genauso stelle ich mir das Innere eines Waldes vor", sagt Moretti, "die Stämme der Bäume sind dunkel, fast schwarz, und von oben fällt das Licht durch die Baumkronen." Um seine Wirkung vollständig zu entfalten, braucht ein solcher Waldboden Raum.

Das 150 Quadratmeter große Apartment ist auf drei Seiten von einer deckenhohen Fensterfront umgeben. Auf der einen Seite befindet sich ein Open Space mit dem Wohn- und Essbereich sowie der Küche. Hier wurden die Gipskartonplatten der Deckenverkleidung entfernt und die ursprüngliche Betondecke samt Haustechnik freigelegt, ein optisch interessanter Gegenpol zum ansonsten bis ins kleinste Detail veredelten Interieur. Material spielt für Moretti eine wichtige Rolle, es soll natürlich, ausdrucksstark und fähig sein, die Volumen bei Bedarf zu öffnen oder zu komprimieren. Wie der deckenhohe, rote Marmorblock im Eingang, in dem sich die Garderobe befindet, oder das verschiebbare Wandregal mit Durchgang zwischen dem Wohnbereich und dem Arbeitszimmer. Die Architektin sieht es als eine Hommage an den Barcelona-Pavillon von Mies van der Rohe: ein "fließender Raum" mit Trennelementen aus Marmor und Holz, bis in die letzte Ecke lichtdurchflutet.

"Materialien sollen für sich sprechen. Marmor, Kupfer und Messing haben eine Eleganz, die einfach nur offengelegt werden muss."
Valentina Moretti

Maximale Individualität im Bosco Verticale

Die Kontinuität des natürlichen Lichts in allen Innenräumen ist für Moretti ein wesentlicher gestalterischer Aspekt. Am Anfang und am Ende des Flurs vom Bosco Verticale wurden deshalb zwei eigens angefertigte hohe Türen aus Glas und Metall eingebaut. Die schwarzen Metallrahmen umranden drei verschiedene Arten von Ornamentglas, sodass trotz der Lichtdurchlässigkeit das Schlafzimmer und das Homeoffice nicht einsehbar sind. Egal ob es sich um die klinkenlosen Türen entlang des Flurs, die Schubladen in Kupfer in der Kücheninsel oder die am Fensterrahmen verankerte Frühstückstheke aus Walnussholz handelt, das harmonische Gesamtbild bestimmen die maßgefertigten, von Moretti entworfenen Einbauten.

"Der Ausblick ist spektakulär! Derart große Bäume in dieser Höhe, das ist ein Aspekt, den man zur Geltung bringen muss."
Valentina Moretti

Marilena Sobacchi brachte ihre Vorliebe für grünblaue Farbtöne ein, die Marmorplatten wählten die beiden Frauen gemeinsam aus. Das Resultat dieser engen, vertrauensvollen Zusammenarbeit ist ein eklektischer Leuchten-, Möbel- und Dekor-Mix. Valentina Moretti gefällt das Ergebnis. Da jedes ihrer Interieurprojekte ein gewisses Maß an stilistischer Strenge in sich trage, sei es ihr wichtig, diese in einer Privatwohnung durchaus auch einmal aufzuweichen, um eine ebenso wohnliche wie persönliche Atmosphäre zu schaffen. „Individuelle Objekte wie der ‚Jasmin Swivel‘-Sessel im Wohnzimmer oder die Kunstwerke im Eingangsbereich befinden sich dort, weil sie Teil einer Erzählung sind“, betont die Architektin. „Und weil es Spaß macht, von Zeit zu Zeit die eigenen Regeln zu brechen."